Dieses Buch ist aus einem Projekt mehrerer Redakteure von ZEIT ONLINE hervorgegangen, mit dem herausgefunden werden sollte, zu welchem Zeitpunkt und wie oft die Abgeordneten bestimmte Begriffe verwendet haben und wie sich die Wortwahl im Laufe der Zeit verändert hat. Maßgeblich ist hier nicht die absolute, sondern die relative Wortzahl pro 100.000 Wörter.
Vorweg ein paar Zahlen, die die Dimension verdeutlichen: Es geht hier um mehr als 200 Millionen Wörter, die im Laufe von 4.216 Budestagssitzungen zwischen 1949 (erste Bundestagssitzung) und 2019 (letzte Sitzung vor der Sommerpause) protokolliert wurden. Es geht auch darum, herauszufinden, ob sich der Eindruck, das Parlament beschäftige sich nur mit wenigen Themen intensiver und mit anderen gar nicht, stimmt. Und letztendlich geht es außerdem darum, inwieweit die Bundestagsdebatten ein Spiegel ihrer Zeit waren und sind.
Das Buch ist in vier Kapitel unterteilt, die jeweils mit Betrachtungen über häufig in den Parlamentsdebatten verwendeten Wörtern gefüllt sind. Die Benennungen der Kapitel soll(t)en den Leserinnen und Lesern Orientierung bieten, schrammen jedoch knapp an diesem Ziel vorbei, weil es ihnen an Trennschärfe fehlt. So beschäftigt sich das erste Kapitel Politische Herausforderungen beispielsweise mit der Atomkraft, dem Kalten Krieg oder dem Antisemitismus; im zweiten Kapitel Gesellschaftlicher Wandel geht es dann u. a. um die Rolle und Stellung der Frauen in der Gesellschaft oder die Ausgestaltung der Heimarbeit, die im Bundestag später unter dem Schlagwort "Telearbeit" und danach unter dem Begriff "Homeoffice" diskutiert wurde. Es erschließt sich nicht unbedingt, warum Themen dem einen oder anderen Kapitel zugeordnet wurden.
Abseits solcher Überlegungen hält das Buch eine Menge interessante Fakten bereit. Da geht es zum Beispiel um die Häufung des Begriffes "Angst" in Zusammenhang mit dem Begriff "Atomwaffen". Wie bei allen untersuchten Wörtern wurde auch hier ein Kurvendiagramm erstellt, aus dem die Entwicklung der Häufigkeit der Nennungen sowie der Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen hervorgeht. Dazu gehört immer auch eine ausführliche Erläuterung des entsprechenden historischen Hintergrunds. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Die Grafik zeigt die mit Abstand meisten Nennungen des Begriffs "Atomwaffen" in den Bundestagsprotokollen im Jahr 1958. Damals wurde bekannt, dass Bundeskanzler Adenauer und Verteidigungsminister Strauß - getreu ihrer Vorstellung, dass Abschreckung den Frieden sichert - die Anschaffung von Atomwaffen planten und dies mit der Begründung, es handele sich um "eine Weiterentwicklung der Artillerie", verharmlosten.
Wie sich die Bedeutung von Szenarien und Problemen in der Wortwahl niederschlägt, ist immer wieder zu beobachten. Ein gutes Beispiel sind die Debatten über das Klima: Mitte der 1980-er Jahre begann die parlamentarische Debatte mit dem Wort "Klimakatastrophe", versiegte in den folgenden Jahren jedoch nach und nach. Die Weltklimakonferenz, die 1999 in Bonn ausgerichtet wurde, gab dem Thema neuen Schub, nun aber war es - in Anlehnung an den weltweit verwendeten Begriff "climate change" - der "Klimawandel", über den im Bundestag gesprochen wurde. 2007 hat dessen Verwendung unter den Parlamentariern ihren Höchststand erreicht, nachdem der Weltklimarat IPCC seinen vierten Sachstandsbericht veröffentlicht hatte, in dem es um den von Menschen gemachten Klimawandel und seine Folgen ging.
Zum Schmunzeln ist das vierte Kapitel Der parlamentarische Sprachgebrauch: Hier geht es darum, wie die Abgeordneten verbal miteinander umgingen oder ob sich in ihren Zitaten, mit denen sie ihre Reden schmücken, ein bestimmtes Bildungsniveau widerspiegelt. Seit 1986 wurde immerhin 32 Mal über "Arschlöcher" und "Ärsche" gesprochen, in den seltensten Fällen war damit jedoch eine Beleidigung verbunden, sondern ein Zitat oder eine gängige Redewendung. Wenn man sein Missfallen über andere Abgeordnete in die passenden Worte fassen will, sind "Trottel" und "Idiot" beliebter, weil Nettigkeiten auf diesem Niveau nach der Geschäftsordnung noch nicht als zu ahndende Beleidigungen gelten, "Arschloch" hingegen schon.
Der Buchtitel ist die gekürzte Fassung einer Beschimpfung, die der Abgeordnete Joschka Fischer 1984 dem Bundestagspräsidenten Richard Stücklen entgegengeschleudert hat: "Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!" Diese Attacke hatte kein formales Nachspiel: Stücklen hatte Fischer kurz zuvor des Saals verwiesen, das Mikrofon war bereits abgeschaltet und die Sitzung unterbrochen. Deshalb findet sich dieser Satz in keinem Parlamentsprotokoll.
Ich habe gerade auf dem großen A eine richtig heftige Kritik zu dem Buch gelesen (https://www.amazon.de/gp/customer-reviews/R36LAABBWOTZR3/ref=cm_cr_dp_d_rvw_ttl?ie=UTF8&ASIN=3411742976) Kannst du diese Kritikpunkte nachvollziehen? Ansonsten wäre das Buch nämlich ein schönes Geschenk für jemanden, bei dem ich mich nicht blamieren möchte ;-)
AntwortenLöschenLG
Sabiene
Die Kritik habe ich auch gelesen und kann sie nicht nachvollziehen. Die Texte sind unterhaltsam geschrieben, und dass die Schrift zu klein sein soll, finde ich indiskutabel: Wer diese Schriftgröße nicht bewältigen kann, hat auch mit manch anderen Printmedien ein Problem.
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Ina