Freitag, 2. Oktober 2020

# 259 - Ein unorthodoxes Leben

Diese beiden Bücher von Deborah Feldman sollten nicht getrennt voneinander beurteilt werden, weil sie inhaltlich zu dicht beieinander sind: Unorthodox (erschienen 2016) und Überbitten (erschienen 2017). In beiden schreibt Feldman über den Menschen, den sie am besten kennt und den sie neu kennenlernen musste: sich selbst. 

Deborah Feldman wächst in der ultraorthodoxen chassidischen Satmarer-Sekte auf. Weil ihr Vater kaum imstande ist, sich selbst zu versorgen, und ihre Mutter mit Sack und Pack verschwunden ist, als die Tochter noch ein kleines Kind war, wird sie von den Großeltern aufgenommen. Die Satmarer leben in Williamsburg, einem Stadtteil des New Yorker Stadtbezirks Brooklyn. Sie sind ganz unter sich und folgen den von ihrem Rabbi gemachten Regeln. Diese Regeln sind äußerst streng und engen vor allem die Frauen ein.

Schon als Achtjähriger fällt Feldman auf, dass den Mädchen und Frauen Wissen vorenthalten wird: Sie beteiligen sich nicht an Gesprächen mit den Männern und gehen auf Mädchenschulen, in denen nur das vermittelt wird, was die künftigen Ehefrauen und Mütter wissen müssen, um ihre Aufgabe zu erledigen. Die Isolation mitten in der Millionenstadt New York wird durch eine Reihe von Verboten zementiert: Die Sprache der Gemeinde ist Jiddisch, Englisch gilt als unrein. Bücher zu lesen ist ebenfalls verboten, wenn es sich nicht um die Tora handelt. Die Ernährung unterliegt der Überwachung des Rabbis, die Milch für Milchprodukte darf nur unter der Aufsicht eines religiös sehr bewanderten Juden gemolken werden. Das Singen ist ab dem zwölften Geburtstag nicht mehr erlaubt. Es reiht sich Verbot an Verbot, Feldman lebt in ihrer Kindheit und Jugend wie in einem Käfig, an dessen Gitterstäbe sie ununterbrochen stößt. Gefühle zu zeigen ist verpönt, stattdessen wird jedes Familienmitglied danach bewertet, wie strikt es die zahllosen Regeln einhält.

Deborah Feldman lebt von Beginn an mit einer Schuld, die sie sich nicht selbst aufgeladen hat. Ihre aus Ungarn stammende Großmutter hat als Einzige in ihrer Familie den Holocaust überlebt, in der Gemeinde finden sich viele Menschen mit einem ähnlichen Schicksal. Um sich posthum an Hitler zu rächen, zeugen die Satmarer so viele Kinder wie möglich. Die Großmutter versäumt nicht, ihre Enkelin darauf hinzuweisen, dass diese nur deshalb lebt, weil die alte Frau überlebt hat. Eine perfide Strategie, einem schuldlosen Menschen Schuldgefühle einzupflanzen.

Feldman wird mit 17 Jahren mit dem sechs Jahre älteren Eli verkuppelt, dem sie bis zum Tag ihrer Hochzeit nur drei Mal begegnet ist. Ihre Ehe gerät in jeder Hinsicht zum Desaster: menschlich, sexuell, religiös. Die Hoffnung, dass eine Ehe gleichbedeutend mit mehr Freiheiten sein könnte, zerschlägt sich: Gebärfähige Ehefrauen haben religiöse Pflichten einzuhalten, was insbesondere Elis Familie wichtig ist. Die junge Frau baut psychisch und physisch ab, und der unreife Eli beginnt fremdzugehen. 

Als sie 19 ist, wird Feldman Mutter eines Sohnes. Fast gleichzeitig schreibt sie sich heimlich bei einem College für ein Literaturstudium ein und trägt außerhalb von Williamsburg moderne Kleidung. Der Abnabelungsprozess von ihrem Mann und der Sekte mündet schließlich darin, dass Feldman ihren Mann nach fünf Jahren Ehe verlässt - rechtzeitig genug, um ihrem Sohn die streng religiöse Erziehung, die im Alter von drei Jahren beginnt, zu ersparen. Sie tut dies in dem Wissen, dass sie für den normalen Arbeitsmarkt ohne einen gültigen Schulabschluss und ohne einen Beruf uninteressant ist. Eine weitere Hürde ist die ihr fremde Welt, in der sie nun leben wird: mit unbekannten Verhaltenscodes und Werten. Mit der Hilfe einer Freundin schafft sie es, mit 23 ihren ersten Verlagsvertrag abzuschließen - für Unorthodox, ein Buch, das sich in den USA zu einem Bestseller entwickeln wird.

Lesen?

Unorthodox vermittelt nicht nur das schwierige Sektenleben, von dem sich Deborah Feldman eingepfercht gefühlt hat. Es geht in ihrer chronologischen Autobiographie auch um weitere Aspekte: Da ist die prüde Erziehung durch die Großeltern, die dazu führte, dass ihre Enkelin nichts über die Sexualität ihres Körpers wusste, aber auch Feldmans Beobachtungen, wie sich das arme Williamsburg nach und nach durch Gentrifizierung veränderte. Sie berichtet auch, wie herzlos und emotional grausam mit Familienangehörigen umgegangen wird, die dem dauernden Druck nicht standhalten und einen Nervenzusammenbruch erleiden.

Deborah Feldman gibt den Leserinnen und Lesern ihres Buches zum Schluss eine Botschaft mit auf den Weg: Wenn irgendwer versuchen sollte, Dir vorzuschreiben, etwas zu sein, was Du nicht bist, dann hoffe ich, dass auch Du den Mut findest, lautstark dagegen anzugehen.
Sie hatte diesen Mut und hat ihn mit dem Ausschluss aus ihrer Familie bezahlt.
 
 
Mit Überbitten hat Deborah Feldman ihr erstes Buch
fortgesetzt. Sie beschließt, sich gemeinsam mit ihrem Sohn auf die Spuren ihrer Großmutter zu begeben, weil diese der einzige Mensch war, der sich ihr positiv zugewandt hatte. Feldman fühlt sich von Europa angezogen und weiß, dass ihr ihre Zukunft einiges abverlangen wird: Sie hört von Menschen, die einen ähnlichen Weg eingeschlagen und sich verzweifelt das Leben genommen haben. 

Bevor sie sich auf ihre Reise begibt, blickt sie auf ihr zurückgelassenes Leben zurück und stellt fest, wie sehr sich die Mitglieder ihrer Sekte abgeschottet haben. So sehr, dass die Häufung von schweren Erkrankungen auf Inzest zurückzuführen sein könnte. Die Gemeinde reagierte darauf mit einem Programm, mit dem die Erbgesundheit ihrer Mitglieder im heiratsfähigen Alter festgestellt wurde.

Als in der Schule allen die Aufgabe gestellt, einen Familienstammbaum zu erstellen, erfährt Feldman bei ihren Recherchen erstmals, welche Rolle Europa in der Familiengeschichte spielt und dass ihre Mutter aus Deutschland stammte. Die gewonnenen Informationen sollen die Grundlage für ihre Reise durch Europa werden, auf der sie vor allem auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist.

Die junge Frau beginnt ihre Selbst-Suche mit einem Roadtrip durch die USA und lernt viele verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebenskonzepten kennen. Sie reist mit ihrem Sohn immer wieder in europäische Länder und beschäftigt sich intensiv mit europäischer Literatur. Das Gefühl des langsamen Ankommens wird stärker und sie merkt, dass ihre wahren Wurzeln in Europa sind. Feldman setzt ihre Nachforschungen über ihre Vorfahren, die sie als 14-jährige Schülerin begonnen hatte, fort und stößt auf erstaunliche Erkenntnisse. Ihre Reise endet in Berlin, wo sie sich mit ihrem Kind niederlässt und spürt, dass sich für sie ein Kreis geschlossen hat: Das Jiddische hat große Ähnlichkeit mit der deutschen Sprache und ein Teil ihres Stammbaums besteht aus einer deutschen Verwandtschaft.

Aber das Ankommen in Berlin verläuft nicht ohne Rückschläge: Mit den Stolpersteinen kann sie nichts anfangen und auf einem ehemaligen jüdischen Friedhof ist heute ein Kinderspielplatz. Das schockierendste Erlebnis hat Feldman jedoch bei einem Schwimmbadbesuch: Sie sieht einen Neonazi, dessen Körper mit eindeutigen Tattoos einschließlich einer Skizze des KZ Auschwitz und der Aufschrift "Jedem das Seine" bedeckt ist und der sich unbehelligt dort aufhält. Der Mann ist Kreistagsabgeordneter der NPD und wird wegen seines "Auftritts" angeklagt. Doch Feldman empfindet den Prozess als Show, das Urteil fällt mild aus.

In einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung erläutert Deborah Feldman den Titel ihres Buches. "Überbitten" geht auf das jüdische Wort "iberbeten" zurück. Damit ist ein Ritual gemeint, mit dem man sich prophylaktisch auch für die Verfehlungen und Verletzungen entschuldigt, von denen man nichts weiß, die man aber begangen haben könnte. Es dient dazu, Gott gnädig zu stimmen und ist eine Versöhnung, bei der nichts besprochen wird. Mit jedem "Iberbeten" wird ein Teil der Schuld gelöscht.
 

Lesen?

Überbitten ist gleichzeitig Fortsetzung und Ergänzung von Unorthodox. Schon das ist eine Empfehlung. Das Buch bietet jedoch einen noch größeren Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt Feldmans, weshalb beide Titel gelesen werden sollten.

Unorthodox ist als gebundenes Buch beim Secession Verlag erschienen, jedoch nur noch antiquarisch erhältlich. Das beim btb Verlag erschienene Taschenbuch kostet 10 Euro.
Die gebundene Ausgabe von Überbitten ist ebenfalls im Secession Verlag erschienen und kostet 28 Euro. Das im btb Verlag veröffentlichte Taschenbuch ist für 12 Euro erhältlich.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen