Freitag, 5. August 2022

# 358 - Brunhilde Pomsel war Goebbels Sekretärin - was trieb sie an?

Ein deutsches Leben ist ein Dokumentarfilm, der
2016 entstanden ist. Das gleichnamige Buch wurde ein Jahr später herausgegeben. Es enthält die 2013 und 2014 nahezu wortgetreu abgegebene Erzählung von Brunhilde Pomsel über ihr Leben im NS-Deutschland und ihre Versuche, sich zu erklären. Zu diesem Zeitpunkt war sie 103 Jahre alt. Das Besondere daran: Pomsel war eine der Sekretärinnen von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels.

Es ist eine Frage, die immer wieder gestellt wird, wenn es um die Entstehung und das Erstarken der Nazi-Diktatur in Deutschland geht: Wie um alles in der Welt konnte es so weit kommen? Und wie viele von den Verbrechen, die das Regime beging, waren in der Bevölkerung bekannt?

Pomsels Lebensbericht, der hier in ihren eigenen Worten wiedergegeben wird, löst beim Lesen Befremden aus. Sie war keineswegs eine Judenhasserin: Sie war eng mit einer Jüdin befreundet, hat eine Ausbildung in einem noblen Bekleidungshaus gemacht, das von einem jüdischen Prokuristen geführt wurde, und danach bei einem jüdischen Versicherungsmakler gearbeitet. Ihren Worten ist nicht zu entnehmen, dass sie aufgrund ihrer Religion gegen diese Menschen Vorbehalte gehabt hätte. Doch sie bemerkte 1933, dass der Versicherungsmakler immer weniger Kunden hatte und vermutete, dass er wohl nicht mehr lange bleiben wird.

Im Jahr zuvor ging sie mit ihrem Freund zu einer Veranstaltung im Sportpalast, ohne zu wissen, was sie dort erwarten würde. Es erschien ein "dicker Mann in einer Uniform": Hermann Göring. Pomsel langweilte sich, weil es um Politik ging, und interessierte sich nicht für das, was Göring sagte. "Wieso auch. Bin ja auch eine Frau, muss ich ja auch nicht." Als sie mit ihrem Freund am 21. März 1933 in Potsdam den Handschlag zwischen Hindenburg und Hitler verfolgte, verstand sie nicht dessen Bedeutung, hatte aber auch daran kein Interesse.

Durch ihre Bekanntschaft mit dem ehemaligen Fliegerleutnant und späteren Radiomoderator Wulf Bley bekam Pomsel eine Stelle beim Rundfunk, die für damalige Verhältnisse gut bezahlt war. Dafür musste sie in die NSDAP eintreten, was sie nicht störte.
Als das Reichspropagandaministerium 1942 eine Stenotypistin suchte, fiel die Wahl auf Brunhilde Pomsel. "Nur eine ansteckende Krankheit" hätte ihren Worten zufolge verhindern können, dorthin versetzt zu werden. Von da an hatte sie Einblick in verschiedene Vorgänge und hat beispielsweise gewusst, was mit Schriftstellern passiert, die sich kritisch äußerten.

Lange Zeit wollte sie nicht wahrhaben, was sich um sie herum veränderte. Es wurden jüdische Geschäfte geschlossen, aber Geschäftsaufgaben gibt es ja immer mal wieder. Sie hörte von Juden, die auf Lastwagen durch Berlin gefahren wurden, nahm das aber nicht ernst, weil sie in ihrem gutbürgerlichen Stadtteil Steglitz so etwas noch nicht gesehen hatte.

Brunhilde Pomsels Einstellung zur Poltik war eine Mischung aus Naivität und bodenloser Gleichgültigkeit. Sie beschönigte ihr damaliges Verhalten nicht, sondern räumte ein, dass sie bei jedem Arbeitsplatzwechsel das höhere Gehalt und der soziale Aufstieg gereizt hat. Um alles andere hat sie sich nie Gedanken gemacht. Doch sie sah bei sich keine Schuld, sondern sprach allenfalls von einer Kollektivschuld. Dass ihr Leben von Widersprüchen durchzogen ist, erkannte sie nicht - oder wollte es nicht erkennen.

Lesen?

Ich habe etliche Passagen des Buches mit  fassungslosem Staunen gelesen und mich gefragt, ob Pomsels Begründung für ihr politisches Desinteresse - "Bin ja auch eine Frau" - typisch für ihre Generation sein könnte. Auch heute fehlt es vielen Menschen an der Bereitschaft, sich ernsthaft mit politischen Themen auseinanderzusetzen und Hintergründe für das, was um uns herum passiert, zu verstehen. Wie fatal es enden kann, wenn zu viele so denken, zeigt die Geschichte.

Ein deutsches Leben endet nicht mit dem Untergang des sogenannten Dritten Reichs, sondern streift auch Pomsels Leben nach dessen Zusammenbruch. Sie geriet in sowjetische Gefangenschaft und arbeitete nach ihrer Freilassung beim Südwestfunk. Der RIAS, bei dem Pomsel zuerst nach einer Anstellung gefragt hatte, lehnte sie wegen ihrer Parteimitgliedschaft ab.
Brunhilde Pomsel ist 2017 im Alter von 106 Jahren verstorben - am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag.

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Thore D, Hansen analysiert in einem ausführlichen Nachwort Brunhilde Pomsels Schilderungen. 

Ein deutsches Leben ist 2017 bei Europa Pocket erschienen und kostet als gebundenes Buch 12,10 Euro sowie als Paperback 11 Euro.



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