Erleichterung, Wut, Verständnislosigkeit, Dankbarkeit - eine Mischung unterschiedlichster Gefühle
Als ich vor einigen Monaten die Ankündigung des Buches Die Menschheit hat den Verstand verloren - Tagebücher 1939-1945 von Astrid Lindgren gesehen hatte, war klar, dass ich es unbedingt lesen musste. Wie hat eine der bekanntesten Kinderbuchautorinnen der Welt den 2. Weltkrieg erlebt? Und was hat ausgerechnet eine Schwedin darüber zu sagen, also eine Bürgerin eines Landes, in das keine fremden Armeen eingefallen sind und es verwüstet haben? Kurzum: Es war nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen.
Der Weltkrieg als Auslöser, eine politische Überzeugung zu entwickeln
Das Vorwort der deutschen Schriftstellerin Antje Rávic Strubel enthält ein Zitat von Astrid Lindgren aus ihrer Rede, die sie anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1978 gehalten hat: "Über Frieden zu sprechen heißt ja, über etwas zu sprechen, das es nicht gibt." Diese traurige Tatsache hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Die Erkenntnis kam Lindgren jedoch erst nach dem Ende des 2.Weltkriegs.
Verständlicherweise richtete sich ihr Hauptaugenmerk lange Zeit auf das Schicksal der Nachbarländer: Norwegen, Finnland und Dänemark wurden von ihr zunächst am meisten beachtet. Später, als die baltischen Staaten massiv von Russland in die Enge getrieben wurden, galt ihr Mitleid auch ihnen.
Astrid Lindgren erzählt die Ereignisse in zum Teil sehr großen Abständen. Manchmal liegen mehrere Wochen zwischen den Einträgen. Vermutlich, um die Details nicht zu vergessen, hatte sie in ihre Tagebücher zahlreiche Ausschnitte aus der schwedischen Tageszeitung "Dagens Nyheter" sowie viele Fotos eingeklebt. Die Artikel sind als übersetzte Faksimiles ebenfalls im Buch enthalten. Doch oft schnappte sie auch Gerüchte auf, die sie meistens anzweifelte: Am 7. Dezember 1939, gut zwei Monate nach Kriegsausbruch, kam ihr beispielsweise zu Ohren, dass Hitler in einer gepolsterten Zelle sitzen und Göring völlig gebrochen sein soll.
Welches Land ist das größere Übel?
Diese Frage war für Astrid Lindgren schnell beantwortet: die Sowjetunion. Dieses Land war für sie der Inbegriff der Barbarei, und sie wünschte sich in den Kriegsjahren mehrmals, wenn Schweden einer der kriegführenden Mächte in die Hände fallen sollte, dann lieber den Deutschen als den Russen.
Schon zu Beginn des Krieges versuchte die Sowjetunion, das benachbarte Finnland zu überfallen, doch die Finnen wehrten sich, so gut sie konnten. Ihnen kamen lange ihre Ortskenntnis und die große Hilfsbereitschaft der Schweden entgegen. Im März 1940 kam es jedoch zu einem Friedensvertrag zwischen den beiden Ländern, der den Russen das Recht gab, die Stadt Hengö im äußersten Südwesten Finnlands 30 Jahre zu besetzen und dort eine Flottenbasis zu unterhalten. Außerdem musste Finnland hinnehmen, dass sich die Grenze zur Sowjetunion am Golf von Finnland und am Ladoga-See in östliche Richtung verschob. Daran hat sich mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung zwischen 1941 und 1944 bis heute nichts geändert. Der ehemalige Grenzverlauf lässt sich in etwa anhand der Orte rekonstruieren, die einen finnischen Namen haben, jedoch auf russischem Staatsgebiet liegen.
Die von den Russen gefangen genommenen Finnen - sowohl Soldaten als auch Zivilisten - waren furchtbaren Gräueltaten ausgeliefert, die Astrid Lindgren zum Teil von Augenzeugen erzählt wurden.
Doch auch vom deutschen Überfall auf Polen ist die Rede, und bereits 1940 hört Lindgren zum ersten Mal von deutschen Konzentrationslagern.
Das Buch hat mir erst deutlich gemacht, wie oft gerade in den ersten Kriegsjahren die Allianzen wechselten. Astrid Lindgren war selbst mehrmals irritiert, dass befreundete Staaten quasi über Nacht zu Feinden wurden. Doch am 10. Mai 1940 beendete sie ihre Gedanken über die Deutschen, deren Führer das Ende des Kampfes "als entscheidend für das Schicksal der deutschen Nation für die nächsten 1.000 Jahre" hält, mit dem Satz: "Mit einem Volk, das im Abstand von etwa 20 Jahren so gut wie die ganze übrige Menschheit gegen sich aufbringt, kann etwas nicht stimmen."
Immer mehr Länder wurden in den Krieg hineingezogen
Die USA, Japan, Nordafrika, Iran, Indien,...: Der Krieg ist nach und nach über die Grenzen Europas geschwappt und hatte durch neue Fronten noch mehr Bedarf an Soldaten erzeugt. In den beteiligten Ländern litten die Menschen unter einem sich ständig verschärfenden Mangel an allem: Es fehlte an Lebensmitteln ebenso wie an Kleidung und Brennstoffen. Nur das neutrale Schweden nahm sich im Vergleich dazu wie eine Insel der Seligen aus: Astrid Lindgren berichtet zwar von Wertmarken und Verdunkelungen, doch letztlich wurde weder gehungert noch gefroren. Bei ihrer Schilderung von Weihnachts-, Oster- oder anderen Familienfesten listete sie akribisch die einzelnen Speisenfolgen auf, vergaß aber nicht zu erwähnen, wie dankbar sie für all das ist. Auch die Geschenke für ihre Kinder fielen immer sehr reichlich aus.
Sie erfuhr von vielen Details und Einzelschicksalen über ihre geheime Arbeit bei der Briefzensur der Postkontrollanstalt. Lindgren hatte in der Schule Deutsch gelernt und nun die Aufgabe, die deutsche Post aus den okkupierten Ländern oder Schweden nach landeskritischen Inhalten zu durchsuchen. Briefe, die sie interessierten, schrieb sie heimlich ab und nahm sie mit nach Hause, obwohl das streng verboten war. Viele von ihnen - allerdings nur die schwedischen - sind auch im Buch abgedruckt und übersetzt.
Ich will jetzt nicht den weiteren Verlauf des Krieges wiedergeben, den die Tagebücher gewissermaßen aus einer Leuchtturm-Perspektive schildern. Dazu gibt es Geschichtsbücher. Doch es wird deutlich, dass sich Astrid Lindgren sehr wohl darüber im Klaren war, dass Schweden während der Kriegsjahre so etwas wie eine Oase gewesen ist. Bei aller Erleichterung, sich selbst und die eigene Familie in dieser komfortablen Situation zu wissen, war sie jedoch immer voller Mitleid für alle Menschen, deren Leben durch die Kriegswirren zerstört wurden. Das galt auch für die deutsche Bevölkerung, obwohl sie ihr grundsätzlich immer weniger Sympathie entgegengebrachte, je mehr Verbrechen bekannt wurden.
Erste Anfänge als Autorin
Die Leser ihrer Tagebücher bekommen viele Einblicke in Lindgrens Privatleben: Im 14. Ehejahr erfuhr sie, dass sie von ihrem Mann Sture betrogen wurde. Die Affäre zog sich ein knappes Jahr hin und stürzte Lindgren in eine psychische Krise. Auch die Sorgen um ihre Kinder belasteten sie: Ihr Sohn Lars brachte klägliche Schulzeugnisse nach Hause, ihre Tochter Karin war ständig kränklich.
1944 schenkte sie ihrer Tochter zu deren zehntem Geburtstag das Manuskript von Pippi Langstrumpf. Im selben Jahr erhielt sie für ihre Geschichte "Britt erleichtert ihr Herz" den 2. Preis bei einem Mädchenbücher-Wettbewerb und schrieb an "Barbro und ich" (später als "Kerstin und ich" erschienen). Allmählich fand sie immer mehr Gefallen am Schreiben. Aber als ihr im Juli 1945 angeboten wurde, eine Familienserie fürs Radio zu schreiben, wurde sie von Selbstzweifeln gepackt: Sie freute sich über das Angebot, aber "ich fürchte, es kommt nur Mist dabei heraus." Kurz darauf wurde die Postkontrollanstalt aufgelöst und Lindgren kurzzeitig arbeitslos.
Im April 1944 schickte sie das Manuskript von Pippi Langstrumpf an den renommierten Albert Bonniers Verlag in Stockholm. Nach vier Monaten bekam sie von dort eine Absage mit einer fadenscheinigen Begründung.
Astrid Lindgrens Tagebucheinträge enden mit dem Silvesterabend 1945. Ihre Rückschau ist von großen Zweifeln geprägt, was die Zukunft bringen mag: "Der Frieden bietet keine große Geborgenheit, die Atombombe wirft ihren Schatten auf ihn."
Mein persönliches Fazit
Leser, die eine akribische Dokumentation der Geschehnisse des 2. Weltkriegs erwarten, würden mit diesem Buch nicht zufrieden sein. An zahlreichen Stellen sind die aus Astrid Lindgrens Sicht wichtigsten Ereignisse nur zusammengefasst worden, ihre Bewertung der Kriegsstrategien fällt eher kurz aus, das Attentat auf Hitler wird mit einer zweiwöchigen Verspätung notiert. Lindgrens Tagebücher sind jedoch ein sehr persönlicher Blick in eine bürgerliche Welt des politisch neutralen Schwedens. An manchen Stellen scheint sie sich fast schon geschämt zu haben, dass ihr Mann Karriere machen und die Familie in eine schönere Wohnung ziehen konnte, während Millionen Menschen nicht einmal das Nötigste zum Leben hatten. In diesen Jahren wurde sie zu einem politisch denkenden Menschen und begann, sich für den Frieden einzusetzen.
Ich fand dieses Buch sehr interessant und kann es auf jeden Fall weiterempfehlen. Es hat einschließlich eines Personenregisters 573 Seiten, davon entfallen mehr als 100 Seiten auf Faksimiles. Die Menschheit hat den Verstand verloren - Tagebücher 1939-1945 wurde am 25. September 2015 im Ullstein Verlag veröfentlicht.
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