Deutscher Buchpreis für den Blick in das Innerste der EU
Robert Menasse wirft in seinem Roman Die Hauptstadt einen vielschichtigen Blick hinter die Kulissen der EU-Bürokratie. Wer bis jetzt noch glaubte, dass das bürokratische Handeln immer dem Wunsch nach einer gestärkten gemeinsamen Identität der Mitgliedsländer folgt, wird hier lesen, dass das nicht unbedingt so ist.
Ein runder Geburtstag muss würdig gefeiert werden
Da sind sich bestimmt fast alle einig. Für die zypriotische EU-Beamtin Fenia Xenopoulou ist die EU-Verwaltung vor allem eines: die ideale Möglichkeit, es mit Fleiß und Kompetenz auf der Karriereleiter immer weiter nach oben zu schaffen. Sie hat eine erstklassige Ausbildung, sie ist zielstrebig, doch nun ist sie ausgerechnet in der Generaldirektion Kultur gelandet. Ihre neue Position als Leiterin der Kommunikation kann über die Bedeutung dieses Bereichs nicht hinwegtäuschen: unwichtiger ist keine andere der EU-Generaldirektionen. Doch als sie den Auftrag bekommt, sich etwas zu überlegen, das das in der Öffentlichkeit ramponierte Image der EU aufpoliert, greift sie die Idee ihres Mitarbeiters Dr. Martin Susman auf: Der 60. Geburtstag der EU-Kommission steht bevor, und da es sich um eine sinnstiftende Idee handeln soll, die die Bürger aller Mitgliedsstaaten anspricht, schlägt Susman eine Aktion vor, die in Zusammenhang mit der Überwindung des Holocausts steht. Dabei soll die KZ-Gedenkstätte in Auschwitz im Mittelpunkt stehen: Hinter dem Wunsch, das Martyrium zu überleben, traten damals alle Unterschiede, die es zwischen den Inhaftierten gab, zurück. Herkunft und Religion spielten dort keine Rolle mehr. Auf der Grundlage dieser Erfahrung und der allgemein akzeptierten Einsicht, dass sich das, was in Auschwitz und allen anderen Konzentrationslagern geschehen ist, nicht wiederholen darf, wurde eine Einigung Europas erst möglich. Im Kern geht es also um die Überwindung eines Nationalgefühls zugunsten des Bewusstseins, dass die Bürger der Mitgliedsstaaten sich in erster Linie als Europäer sehen sollen.
Die Planung kommt ins Rollen, doch der Fortgang in einem so großen Koloss wie der EU-Administration ist ein anderer, als es sich Xenopoulou und Susman vorgestellt haben. Der Vorschlag entwickelt sich langsam aber sicher zu einem Desaster.
Ein mysteriöser Mord, ein KZ-Überlebender und ein aus der Zeit gefallener Professor
Etwa zeitgleich mit dem Beginn der Überlegungen zum Kommissionsjubiläum wird im Brüsseler Hotel Atlas ein ausländischer Gast ermordet. Kommissar Brunfaut nimmt die Ermittlungen auf, wird aber kurz darauf vom Staatsanwalt abrupt ausgebremst: Er weist ihn an, den Fall ruhen zu lassen und schickt ihn in einen mehrwöchigen Urlaub. Das ist auch für Brüsseler Verhältnisse ungewöhnlich. Brunfaut stellt nach seiner Rückkehr fest, dass alle Informationen, die er zu diesem Fall gespeichert hatte, gelöscht wurden. Auch in den Zeitungen steht kein Wort hierüber. Es ist, als hätte es den Toten nie gegeben. Doch die Neugier treibt ihn an, mithilfe seines besten Freundes heimlich weiter zu ermitteln. Was dann passiert, lässt sein Misstrauen, das er berufsmäßig gegen viele Menschen hat, nun auch gegen den besten Freund gedeihen.
Zum Zeitpunkt des Mordes wohnt auch der emeritierte Professor Alois Erhart im Hotel Atlas. Er ist nach Brüssel gereist, um sich an einem Think-Tank der EU-Kommission zu beteiligen, der sich mit der Zukunft Europas befasst. Er merkt schnell, dass es den anderen Mitgliedern nicht in erster Linie um die gemeinsame europäische Idee, sondern um sich selbst geht. Ihre Denkmuster verlaufen in eingefahrenen Bahnen, sodass Erhart einen Vortrag hält, der die Teilnehmer zum Umdenken bewegen soll, ihn aber gleichzeitig aus ihrer Mitte katapultiert.
Aus dem Haus gegenüber dem Hotel beobachtet David de Vriend, dass die Polizei vor dem Hotel Atlas vorfährt. Es ist der letzte Moment, den er nach sechzig Jahren in seiner Wohnung verbringt. Die Räume sind bereits leer, jetzt steht der Umzug in ein Altenheim an. De Vriend ist ein ehemaliger belgischer Widerstandskämpfer, der im letzten Moment aus einem Deportationszug springen konnte, der seine gesamte Familie in den Tod fuhr. Er hat eine spätere Haft in Auschwitz überlebt und versuchte sein Leben lang, das Erlebte zu vergessen. David de Vriend ahnt nicht, dass die Generaldirektion Kultur auf der Suche nach Auschwitz-Überlebenden ist und ihm nach und nach auf die Spur kommt.
Und dann ist da noch das Schwein. Es ist plötzlich da, wird in verschiedenen Stadtteilen Brüssels gesehen und bewegt die Lokalpresse. Das Tier soll aber nicht der Running Gag sein, der sich durch das ganze Buch zieht, sondern steht für ein Gut, das quasi quer durch die ganze EU verwaltet wird: Von seiner Geburt bis zur Schlachtung und dem Verzehr ist immer eine andere EU-Verwaltungseinheit für es zuständig. Nicht zuletzt steht das Schwein als Metapher für etliche schweinische Zustände, vom "Glücksschwein" bis zu "saudumm".
Lesen?
In Die Hauptstadt beschreibt Robert Menasse die EU mit einem Spektrum von kritisch bis amüsiert. Letztlich arbeiten auch dort nur Menschen mit individuellen Hoffnungen, Wünschen und Bedürfnissen und es wird wie überall nur mit Wasser gekocht. In seinem Buch wird jedoch auch deutlich, dass es mit dem hehren Ziel, dass sich die Europäer irgendwann von ihrem Leuchtturmdenken lösen und ihre Zukunft europäisch ausrichten werden, noch nicht so weit her ist. Das erleben wir gerade aktueller, als es uns lieb ist: So manchem EU-Staatschef ist das Hemd näher als der Rock. Warum? Darüber kann nur spekuliert werden.
Die Hauptstadt ist im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24,-- Euro, als epub- oder Kindle-Edition 20,99 Euro sowie als Hörbuch (MP3-CD) 13,99 Euro. Ich bedanke mich beim Suhrkamp Verlag, der mir das Buch zur Verfügung gestellt hat. Mehr Informationen und Meinungen über das Buch gibt es unter Suhrkamp Verlag.
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