Freitag, 16. Juli 2021

# 299 - Wie Augsburg zu seiner Puppenkiste kam

Wer kennt sie nicht: Lukas, den Lokomotivführer, Urmel aus dem Eis, Kater Mikesch oder Frau Mahlzahn? Wer die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste nicht live vor Ort verfolgen konnte, saß oft vor dem Fernseher, um die Abenteuer der Puppen zu sehen.

Vor 73 Jahren hat der Schauspieler Walter Oehmichen die heutige Augsburger Puppenkiste gegründet. Ihr Vorläufer war der sog. "Puppenschrein": Oehmichen war während des Zweiten Weltkriegs in Calais stationiert und hatte dort die deutschen Soldaten mit selbstgemachten Puppen unterhalten. Wieder zurück in Augsburg baute er ein mobiles Haustheater, das nur einen Türrahmen und einen Tisch benötigte. Damit gab er auch im Krankenhaus Vorstellungen.

Ein Bombentreffer zerstörte den Puppenschrein. Oehmichen musste erneut in den Kriegsdienst, wurde jedoch wegen einer Erkrankung in eine Darmstädter Klinik eingeliefert. Dort lernte er einen Holzbildhauer kennen, der ihm das Schnitzen beibrachte. Der Grundstein für die spätere Augsburger Puppenkiste wurde dort mit den ersten beiden Figuren gelegt.

Mit diesen Anfängen der Augsburger Puppenkiste beschäftigt sich Thomas Hettches Roman Herzfaden. Dieses Wort stammt von Oehmichen und ist keine Erfindung des Autors. Oehmichen bezeichnete so den wichtigsten Faden seiner Puppen, denn er "macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht".

Hettche schildert die Geschichte des Puppentheaters aus der Sicht von Hannelore Oehmichen, eine der Töchter von Walter Oehmichen. Sie, die von allen "Hatü" genannt wurde, war es, der die Arbeit in er Puppenkiste mindestens so am Herzen lag wie ihrem Vater. Doch der Autor bringt noch einen weiteren Dreh hinein: Das Buch beginnt damit, dass ein zwölfjähriges Mädchen mit seinem Vater eine Vorstellung der Puppenkiste besucht, obwohl es das für Kinderkram hält. Es versteckt sich und findet zufällig eine Holztür, die auf einen in Mondlicht getauchten Dachboden führt. Mit jeder Stufe, die nach oben führt, schrumpft das Mädchen ein Stückchen. Als es den Dachboden erreicht hat, ist das Mädchen nur noch so groß wie eine Marionette. Dort oben trifft es nicht nur auf die bekanntesten Figuren der Augsburger Puppenkiste, die lebendig geworden sind und sprechen können, sondern auch auf den Geist der längst verstorbenen Hatü, der vom eigenen Leben und dem Werdegang der Puppenkiste erzählt.

In dieser Erzählung ist die deutsche Geschichte während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit eingeflochten. Hatü schildert, was sie als Kind und junge Erwachsene wahrgenommen und erlebt hat: die Probleme des Kriegsalltags ohne den Vater, die Deportationen von Juden aus der Nachbarschaft, die unentschlossene Haltung von Walter Oehmichen, der kein Nazi, sondern eher ein unauffälliger Mitläufer war.

Hatü spricht auch über ihre Angst vor dem Kasperl, die sich auch auf dem Dachboden immer wieder zeigt. Ihn hat sie während eines Aufenthalts der Kinderlandverschickung geschnitzt und ihm unbewusst Merkmale zugefügt, die von den Nazis als antisemitische Stereotype propagiert wurden. Das schleichende Gift der nationalsozialistischen Propaganda hatte sich auch bei der kleinen Hatü ausgebreitet, ohne dass es ihr zunächst bewusst geworden war. Seitdem fürchtet sie sich vor ihrer eigenen Marionette.

Lesen?

Herzfaden ist mit seinem Wechsel zwischen Hatüs Rückschau und den Szenen auf dem Dachboden ein modernes Märchen, das dazu beiträgt, nicht nur die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, sondern auch Deutschlands ein Stück weit lebendig und im Gedächtnis zu behalten. Leseempfehlung!

Thomas Hettche hat bereist zahlreise Preise für seine Werke erhalten. Herzfaden stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Herzfaden ist 2020 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

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