Samstag, 20. April 2019

# 193 - Medizinskandale in Deutschland

Da ich selbst in meinem Leben viel Kontakt zu Ärzten hatte und eine geraume Zeit in Krankenhäusern verbracht habe, hat mich dieses Buch interessiert. Geschädigt statt geheilt: Große deutsche Medizin- und Pharmaskandale von Eckart Roloff und Karin Henke-Wendt dokumentiert eine ganze Reihe von Skandalen aus der BRD und der DDR, deren umfassende Aufbereitung und Darstellung vor allem der ausdauernden Recherche der Autoren zu verdanken ist. Sie schreiben über fast vergessene medizinische Dramen wie das Lübecker Impfunglück von 1930, dem etwa 70 Säuglinge zum Opfer fielen, und bekannte Skandale, die monate- oder sogar jahrelang die Medien beschäftigt haben. Der Fall von Gustl Mollath, der zu Unrecht über sieben Jahre in der Psychiatrie festgehalten wurde, erschüttert ebenso wie der unfassbare Umgang der Kliniken, in denen der mordende Krankenpfleger Niels Högel sein tödliches Unwesen trieb. 

16 Skandale werden von den Autoren sehr genau geschildert. Immer wieder kommt zwischen den Zeilen ihre Fassungslosigkeit angesichts der langen Dauer, in denen beispielsweise verunreinigte Impfdosen gegeben wurden (Anti-D-Impfungen in der DDR) oder die Schädlichkeit eines Medikaments vom Hersteller ausdauernd geleugnet wurde (Contergan-Skandal), zum Ausdruck. Auch die langen Prozesse mit einem insbesondere für die geschädigten Patienten unsicheren Ausgang werden von ihnen kritisiert.
Mich hat das Kapitel über den OP-Roboter Robodoc besonders interessiert, der ab Mitte der 1990-er Jahre in erster Linie bei Hüftprothesen-OPs eingesetzt wurde. Damals hat man auch mir den Vorschlag gemacht, mich solch einem Robodoc-Eingriff zu unterziehen, was ich, nachdem ich eine Menge darüber gelesen hatte, dankend abgelehnt habe. Wie ich nicht erst seit der Lektüre dieses Buches weiß, war das eine gute Entscheidung.

Lesen?

Roloff und Henke-Wendt schreiben über die Pharma- und Medizinskandale so, dass es auch für Laien verständlich ist. Das Buch kann keine vollständige Aufzählung aller Skandale dieser Branche sein; ohne mich früher näher damit beschäftigt zu haben, fallen mir noch weitere Vorkommnisse ein, die durchaus das Zeug zu einem Skandal gehabt hätten. 
Auch wenn man am Ende des Buches angesichts der zum Teil ungeheuerlichen Vorgänge ein mulmiges Gefühl haben könnte, sollte das nicht dazu führen, dass man grundsätzlich das Vertrauen in die Medizin verliert: Wie überall gibt es großartige Vertreter ihres Berufsstandes und solche, die man am liebsten in ein Kämmerlein schließen und den Schlüssel wegwerfen möchte, damit diese Leute kein weiteres Unheil anrichten können. Wer damit umgehen kann, für den ist Geschädigt statt geheilt eine sehr interessante Lektüre, die Patienten auch dazu anregen kann, sich umfassend zu informieren, bevor sie einer Behandlung zustimmen, und alles zu hinterfragen, was ihnen unklar geblieben ist. Das ist heute viel einfacher als vor zwanzig oder dreißig Jahren, als es noch kein Internet gab.

Geschädigt statt geheilt ist 2018 im S. Hirzel Verlag erschienen und kostet als Taschenbuchausgabe 22 Euro.

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