Posts mit dem Label Krankheit werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Krankheit werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Dienstag, 4. Februar 2025

# 465 - Aus der Krise entsteht ein Buch: Joachim Meyerhoffs Rettung durch seine Mutter

Mit Man kann auch in die Höhe fallen hat der
Schauspieler und Autor Joachim Meyerhoff sein sechstes Buch veröffentlicht. In allen seiner Bücher geht es um seine Eltern, seine Brüder und ihn selbst. Seine Partnerinnen sowie die gemeinsamen Kinder werden zwar nicht verschwiegen, kommen aber nur am Rande vor.

In diesem Buch beschränkt sich Meyerhoff nun fast ausschließlich auf seine Mutter Susanne und sich selbst. Eine schwere Lebenskrise bringt ihn mit Mitte fünfzig zu dem Entschluss, seine in Berlin lebende Familie vorübergehend zu verlassen und bei seiner 86-jährigen Mutter, die allein in einem Haus mit großem Grundstück in Schleswig-Holstein an der Ostsee lebt, Unterschlupf zu suchen. In der ländlichen Ruhe hofft er, wieder zu sich selbst zu finden und sein Leben in den Griff zu kriegen.

Der Krise sind ein Schlaganfall, die Unzufriedenheit als Schauspieler und der ungeordnet wirkende Umzug vom geliebten Wien ins unruhige Berlin vorausgegangen. Meyerhoff schreibt in Episoden, die sich mal mit seinen teilweise skurrilen Erlebnissen auf deutschen Theaterbühnen und mal mit dem Mutter-Sohn-Leben an der Ostsee beschäftigen. Wer mindestens eines der vorangegangenen Bücher gelesen hat, wird den selbstironischen Tonfall und trockenen Humor wiedererkennen.

Joachim und Susanne Meyerhoff werkeln zusammen im Garten, baden gemeinsam in der Ostsee oder tun Dinge, die Mutter Meyerhoff spontan in den Sinn kommen. Das abendliche Zusammensitzen mit einem Glas Whisky in der Hand ist ein Ritual, bei dem sich gute Gespräche ergeben. Joachim Meyerhoff beschreibt seine Mutter als eigenwillige Person, die nach dem Tod ihres Mannes aufgeblüht ist und sich um Konventionen keine Gedanken macht. Auch in Situationen, die befremdlich wirken, kommt seine Mutter letztendlich noch gut weg.

Mit sich selbst geht der Autor in seinem Buch weniger schonend um. Wenn Meyerhoff Szenen aus seinem Leben Revue passieren lässt, macht das Gelesene teilweise ratlos. Oft steht er sich selbst im Weg und findet aus Alltagssituationen, die anders als geplant verlaufen, keinen sinnvollen Ausweg. Er beobachtet an sich eine erhöhte Reizbarkeit, die er für eine Folge des Schlaganfalls hält und seinen Alltag verkompliziert. Sein Nervenkostüm ist so dünn, dass Meyerhoff vor einer Lesung in einer Lübecker Buchhandlung eine Panikattacke erleidet. Die Lesung wird durch seine Mutter gerettet, die diese Aufgabe trotz fehlender Erfahrung mit Bravour meistert.

Meyerhoff verbringt zehn Wochen bei seiner Mutter, ehe er sich in der Lage fühlt, nach Berlin zu seiner Partnerin und seinem jüngsten Sohn zurückzukehren. In dieser Zeit hat er die Texte für Man kann auch in die Höhe fallen fertig gestellt, was ihm in Berlin nicht möglich gewesen war.

Lesen?

Man kann auch in die Höhe fallen liest sich ebenso flüssig wie seine Vorgänger. Bei einigen Anekdoten aus Meyerhoffs Leben als Schauspieler kann man sich wegen ihrer Absurdität fragen, ob sie tatsächlich wahr oder einfach gut erfunden sind.

Das Buch hat einen hohen Unterhaltungswert, aber (zu) oft beschleicht einen das Bedürfnis, den hilflos wirkenden Autor an die Hand zu nehmen und zu sagen: "Komm, mien Jung, ick helpe di."

Rührend und zugleich bedrückend ist Meyerhoffs Fazit seiner Aus-Zeit, das er seiner Mutter gegenüber kurz vor seiner Abreise zieht:
"Seit Jahren habe ich das Gefühl, dass sich etwas zuzieht, Mama, dass ich in etwas Dunkles hineingerate. Ich versuche ununterbrochen alles, um es abzuwenden. Mich zu wappnen und stark zu bleiben. Ich versuche, für alle da zu sein. [...] Aber die Zeit bei dir, die hat mich gerettet. Es geht mir wirklich viel besser. Ich werde am Theater kündigen. [...] Es geht einfach nicht mehr, das hab ich jetzt begriffen. Durch dich. Danke, Mama."

Dass ihr Sohn, als seine Mutter mit einem Bekannten spontan zu einer Reise aufbricht und er zwei Wochen allein in ihrem Haus ist, beim Gedanken an ihren Tod von Verlustängsten geradezu überrollt wird, weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Man kann auch in die Höhe fallen ist 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 26 Euro sowie als E-Book 22,90 Euro.

Hinweis: Aus Meyerhoffs Buchreihe wurden in meiner Bücherkiste Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (der erste Beitrag dieses Blogs!) und Alle Toten fliegen hoch - Teil 1: Amerika besprochen.

Sonntag, 10. April 2022

# 343 - Syrien - aus der Ferne betrachtet

Seit nun schon elf Jahren befindet sich Syrien im
Bürgerkrieg. Er wurde durch die gewaltsam niedergeschlagenen Proteste gegen den immer noch amtierenden Präsidenten Baschar al-Assad ausgelöst. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen starben mehr als 350.000 Zivilisten, etwa 5,6 Millionen Syrerinnen und Syrer sind aus ihrem Heimatland geflohen - alte und junge Menschen, die einfach nur ihr Leben leben wollten. Die Bedrohung besteht bis heute, ein Ende ist nicht abzusehen.

Djuman Badran ist im Roman Unser Haus dem Himmel so nah von Shahla Ujayli die Hauptperson. Sie ist promovierte Anthropologin und hat sich vor dem Krieg in der jordanischen Hauptstadt Amman in Sicherheit gebracht. Djuman führt die Leserinnen und Leser durch etwa 100 Jahre syrische Geschichte, indem sie auf Menschen trifft, die sie bereits kennt oder die neu in ihr Leben treten. Vom Krieg in ihrer Heimat und dessen Auswirkungen auf die Bevölkerung erfährt sie in Telefonaten mit ihrer in ihrer Geburtsstadt Raqqa gebliebenen Familie und über die Auswertung von Statistiken. Sie leidet mit ihrem Vater und ihren Geschwistern, die ihr von den Taten des IS berichten, aber als Djuman erfährt, dass sie an Krebs erkrankt ist, überlagern ihre Angst um das eigene Leben und die schmerzhafte Therapie die Nachrichten von zu Hause.

Ihr steht Nasser al-Amiri zur Seite. Djuman hat den Klimaforscher auf einem Flug von Tunesien nach Amman kennengelernt, und nach einer langsamen und vorsichtigen Annäherung werden sie ein Paar. Nasser hat syrische Wurzeln, sein Großvater war Rechtsanwalt in Aleppo, bevor er aus politischen Gründen nach Damaskus zog. Nasser lebt zum Zeitpunkt des Kennenlernens in Abu Dhabi.

Unser Haus dem Himmel so nah ist kein Roman, der stringent eine Geschichte erzählt. Es ist ein Roman über zahlreiche Menschen aus dem arabischen Raum, die es wegen politischer Krisen in ihren Heimatländern in die ganze Welt zieht. Sie verlassen ihr Zuhause, um irgendwo anders eine Zukunft und ein neues "Haus" aufzubauen. Informationen werden über Dialoge oder Monologe transportiert, wodurch die jeweiligen Personen besser kennen gelernt werden.

Man wird beim Lesen den Eindruck nicht los, dass sehr viel von Shahla Ujaylis eigener Geschichte in dieses Buch eingeflossen ist. Dieser Eindruck entsteht nicht nur durch die genaue Darstellung der einzelnen Menschen, sondern auch den Umstand, dass die Autorin in einem akademisch geprägten Umfeld aufgewachsen ist, das dem in ihrem Roman sehr ähnlich ist. Sogenannte "einfache Leute" kommen so gut wie gar nicht vor.

Lesen?

Trotz dieser etwas eingeschränkten Sichtweise ist Unser Haus dem Himmel so nah ein empfehlenswertes Buch. Shahla Ujayli ermöglicht insbesondere den Leserinnen und Lesern unseres eigenen Kulturkreises kulturelle und historische Einblicke, die Nachrichten oder Geschichtsbücher in dieser Form nicht vermitteln können.  

Unser Haus dem Himmel so nah ist in der vorliegenden deutschen Übersetzung von Christine Battermann 2022 im Kupido Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 28 Euro. Der Roman stand auf der Shortlist für den International Prize of Arabic Fiction.

Samstag, 20. April 2019

# 193 - Medizinskandale in Deutschland

Da ich selbst in meinem Leben viel Kontakt zu Ärzten hatte und eine geraume Zeit in Krankenhäusern verbracht habe, hat mich dieses Buch interessiert. Geschädigt statt geheilt: Große deutsche Medizin- und Pharmaskandale von Eckart Roloff und Karin Henke-Wendt dokumentiert eine ganze Reihe von Skandalen aus der BRD und der DDR, deren umfassende Aufbereitung und Darstellung vor allem der ausdauernden Recherche der Autoren zu verdanken ist. Sie schreiben über fast vergessene medizinische Dramen wie das Lübecker Impfunglück von 1930, dem etwa 70 Säuglinge zum Opfer fielen, und bekannte Skandale, die monate- oder sogar jahrelang die Medien beschäftigt haben. Der Fall von Gustl Mollath, der zu Unrecht über sieben Jahre in der Psychiatrie festgehalten wurde, erschüttert ebenso wie der unfassbare Umgang der Kliniken, in denen der mordende Krankenpfleger Niels Högel sein tödliches Unwesen trieb. 

16 Skandale werden von den Autoren sehr genau geschildert. Immer wieder kommt zwischen den Zeilen ihre Fassungslosigkeit angesichts der langen Dauer, in denen beispielsweise verunreinigte Impfdosen gegeben wurden (Anti-D-Impfungen in der DDR) oder die Schädlichkeit eines Medikaments vom Hersteller ausdauernd geleugnet wurde (Contergan-Skandal), zum Ausdruck. Auch die langen Prozesse mit einem insbesondere für die geschädigten Patienten unsicheren Ausgang werden von ihnen kritisiert.
Mich hat das Kapitel über den OP-Roboter Robodoc besonders interessiert, der ab Mitte der 1990-er Jahre in erster Linie bei Hüftprothesen-OPs eingesetzt wurde. Damals hat man auch mir den Vorschlag gemacht, mich solch einem Robodoc-Eingriff zu unterziehen, was ich, nachdem ich eine Menge darüber gelesen hatte, dankend abgelehnt habe. Wie ich nicht erst seit der Lektüre dieses Buches weiß, war das eine gute Entscheidung.

Lesen?

Roloff und Henke-Wendt schreiben über die Pharma- und Medizinskandale so, dass es auch für Laien verständlich ist. Das Buch kann keine vollständige Aufzählung aller Skandale dieser Branche sein; ohne mich früher näher damit beschäftigt zu haben, fallen mir noch weitere Vorkommnisse ein, die durchaus das Zeug zu einem Skandal gehabt hätten. 
Auch wenn man am Ende des Buches angesichts der zum Teil ungeheuerlichen Vorgänge ein mulmiges Gefühl haben könnte, sollte das nicht dazu führen, dass man grundsätzlich das Vertrauen in die Medizin verliert: Wie überall gibt es großartige Vertreter ihres Berufsstandes und solche, die man am liebsten in ein Kämmerlein schließen und den Schlüssel wegwerfen möchte, damit diese Leute kein weiteres Unheil anrichten können. Wer damit umgehen kann, für den ist Geschädigt statt geheilt eine sehr interessante Lektüre, die Patienten auch dazu anregen kann, sich umfassend zu informieren, bevor sie einer Behandlung zustimmen, und alles zu hinterfragen, was ihnen unklar geblieben ist. Das ist heute viel einfacher als vor zwanzig oder dreißig Jahren, als es noch kein Internet gab.

Geschädigt statt geheilt ist 2018 im S. Hirzel Verlag erschienen und kostet als Taschenbuchausgabe 22 Euro.