Dieses Buch basiert auf einer ziemlich abgefahrenen
Idee: Der Journalist Peter Grünlich hatte sich vorgenommen, alle deutschsprachigen Wikipedia-Einträge zu lesen. Er hatte sich dafür ein Jahr Zeit genommen und täglich einige Stunden in der Online-Enzyklopädie gelesen. Seine Erfahrungen mit Wikipedia und das, was er dort gelernt hat, hat er in seinem Buch Der Alleswisser zusammengetragen.
Aber geht das überhaupt? Kann man zumindest alle deutschen Wikipedia-Seiten durchlesen? Ja, wenn man bereit ist, dafür elf Jahre seines Lebens zu investieren und während dieser Zeit auf Schlaf zu verzichten. Das würde aber nur dann klappen, wenn ab sofort keine weiteren Artikel hinzukämen. Aber so ist es nicht: Jeden Tag wächst die Zahl der deutschen Artikel um mehrere Hundert.
Da bleibt nur eins: Man muss dieses Projekt mit einem System angehen. Grünlich versucht es mit dem Lesen in alphabetischer Reihenfolge, doch schnell wird klar: Es gibt kaum etwas Ermüdenderes, als sich auf Gedeih und Verderb todlangweilige Texte anzutun, nur um das selbstgewählte Prinzip einzuhalten. Der Autor versucht es deshalb mit dem zufallsgesteuerten Durchklicken und stößt dabei auf Inhalte, die ihn überrascht, abgestoßen oder fasziniert haben und alle eines gemeinsam hatten: Sie waren interessant, aber kaum bekannt.
Das, was Grünlich in seinem Buch zusammengetragen hat, ist jedoch weit entfernt davon, Bestandteil eines Bildungskanons zu werden. Er pflügt im Zickzack-Kurs durch die Themen und stößt dabei auf Erklärungen zu Redewendungen oder Begriffen wie beispielsweise "Scheißtag", die wir häufig benutzen, aber deren Herkunft wir meistens nicht kennen.
Weiter geht es mit Skandalen (z. B. der sog. Perdicaris-Zwischenfall von 1904, der sich erst Jahrzehnte später als ein Versagen von US-Präsident Roosevelt herausstellte), ungewöhnlichen Todesarten (darunter der Grund für die kürzeste Amtszeit eines US-Präsidenten oder die Todesart des griechischen Dichters Aischylos 456 v. Chr.) sowie unglaublichen Artikeln über Tiere (ganz vorn dabei: 'Mike the Headless Chicken', der anderthalb Jahre mit einem fast ganz abgetrennten Hals weiterlebte, und ein Bärenpavian, der 1890 in Südafrika die Prüfung zum Schrankenwärter ablegte).
Auch die blutigste Kneipenschlägerei der Geschichte ist eine Erwähnung wert. Sie ereignete sich 1355 in Oxford, zog sich mehrere Tage hin und kostete über 90 Menschen das Leben.
Lustiger ist da schon die Geschichte des französischen Pups-Künstlers Joseph Pujol, der ab 1892 dem staunenden Publikum zeigte, welche Töne er seinem Darmausgang entlocken konnte. Das Auspusten von Kerzen mithilfe der Blähungen war da noch die leichteste Übung. Diese Biographie ist eine von mehr als 763.000 (Stand Mai 2020) der deutschsprachigen Wikipedia. Darunter befindet sich auch die des Franzosen Michel Lotito, der im Laufe seines Lebens 18 Fahrräder, 15 Einkaufswagen, sieben Fernseher, sechs Kronleuchter, zwei Betten, ein Paar Ski, einen Sarg und eine Cessna verspeiste. Nichts davon hat ihm geschadet. Das sehr skurrile Verhalten geht auf eine Essstörung mit dem Namen Pica-Syndrom zurück.
Auch die Geschäftsidee der Britin Elizabeth Ruth Belville ist eine Erwähnung wert. Belville lebte von 1854 bis 1843 und machte ihr Geld 40 Jahre lang damit, die amtliche Zeit (Greenwich Mean Time) mit einer eigenen Uhr abzugleichen und die abgelesene Uhrzeit Abonnenten wie beispielsweise Uhrmachern mitzuteilen. Sie ist als 'Greenwich Time Lady' ein Teil der Londoner Stadtgeschichte.
Lesen?
Es würde hier zu weit führen, weitere Beispiele für spannende Artikel aufzuführen. Der Untertitel, den Grünlich seinem Buch gegeben hat, weist bereits in die richtige Richtung: Wie ich versucht habe, Wikipedia durchzulesen, und was ich dabei gelernt habe. Man lernt beim Lesen der Wikipedia-Artikel eine ganze Menge, und irgendetwas nimmt man immer für sich mit. Die Internet-Enzyklopädie hat einen unfassbaren Umfang angenommen, sodass man zu fast allen Themen Inhalte findet. Die von Grünlich verwendete Methode ist allerdings gewöhnungsbedürftig, denn sie verführt dazu, sich im Dickicht der Informationen zu verlieren. Dass das Grünlich passiert ist, ist dem Buch an einigen Stellen anzumerken. Er kommt oft vom Hölzchen aufs Stöckchen, manche Themen werden hingegen in ein oder zwei Sätzen nur angerissen. Das schnelle Springen von einem Thema zum anderen macht das Buch zwar sehr interessant, das Lesen aber etwas anstrengend.
Der Alleswisser ist 2020 im Yes Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 14,99 Euro sowie als E-Book 11,99 Euro.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen