Sonntag, 5. November 2023

# 416 - Ein Sommer vor 50 Jahren

Thomas Oláh, der in der Film- und Theaterbranche als Kostüm- und Bühnenbildner bekannt ist, hat mit Doppler sein Romandebüt veröffentlicht.

Sein namenloser Ich-Erzähler ist ein Junge, der an einem Sommertag mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder mit dem Auto ins Wochenende fährt. Doch die Familie wird ihr Ziel nicht erreichen: Der Wagen kommt von der Straße ab, überschlägt sich und bleibt auf dem Dach liegen. Der Junge hat, wie er im Krankenhaus erfährt, eine Gehirnerschütterung. Was aus den Eltern und dem Bruder geworden ist, erfährt er nicht. Ein Onkel holt ihn aus dem Krankenhaus ab und bringt ihn zu seinen Großeltern, die er kaum kennt.

Die Handlung spielt 1970 im fiktiven österreichischen Dorf Frankenhayn, in dem die Großeltern des Jungen und weitere Verwandte wohnen. Der Ort ist geprägt vom Weinanbau. Oláh beschreibt das Leben der österreichischen Landbevölkerung, wie es vor rd. 50 Jahren auch in Deutschland oft üblich war. Es werden nicht mehr Worte als nötig gemacht, dem sozialen Miteinander haftet etwas Archaisches an, Zärtlichkeiten gibt es nicht.
Die oft grausame Art, mit Menschen und Tieren umzugehen, findet ihre Erklärung in der Geschichte und den Erfahrungen jedes einzelnen Familienmitglieds, wobei Oláh den Bogen in seinem Roman bis zurück in die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs spannt. Der Hang zur Brutalität wird an die nächste Generation, hier an die beiden Cousins des Jungen, weitergegeben.

Die Großeltern werden als gefühlte Konstante von allen nachfolgenden Generationen mit "Mutter" und "Vater" angesprochen, ebenso konstant ist die Möblierung: Die beiden Alten schlafen in kastenähnlichen Bauernbetten mit hohen Rahmen, die von dem Jungen als Sarkophage bezeichnet werden.
Der Katholizismus wird mit seinen Ritualen gelebt, ihm haftet jedoch etwas Bigottes an. 
Das Leben ist vom Rhythmus der anstehenden Arbeiten und vom ausgiebigen Verkosten des selbst hergestellten Weins geprägt, der in großen Zweiliter-Flaschen, den Dopplern, abgefüllt wird. Dieses Verkosten folgt ebenso wie der katholische Glauben festen Abläufen.

Und dann ist da das Gefühl des Jungen, von seiner Familie, die mit ihm verunglückt ist, vergessen worden zu sein: Eines Nachts bemerkt er die Gespräche der Erwachsenen, die wie dort üblich nur aus einzelnen Worten und Halbsätzen bestehen. Er sieht seinen Vater und seinen kleinen Bruder, die beiden scheinen gemeinsam mit den Großeltern die Mutter besuchen zu wollen. Der Junge ist jedoch nicht sicher, niemand spricht mit ihm darüber oder tröstet ihn. Er hat keine Ahnung, wie lange er in Frankenhayn bleiben muss und wie es mit ihm weiter geht.

Lesen?

Thomas Oláh ist im selben Jahr geboren wie ich. Vieles von dem, das er beschreibt, habe ich so oder so ähnlich selbst in Erinnerung. Oláh schafft es sehr gut, die Haltlosigkeit des in dem Winzerdorf gestrandeten Jungen zu dokumentieren, sodass man durchweg auch in den positiven Szenen Mitgefühl empfindet.

Oláh setzt neben dem Jungen einen Erzähler ein, der die ihm unbekannten Familienhintergründe beschreibt. Dadurch geraten Leserinnen und Leser in die etwas kuriose Situation, dass sie im Gegensatz zur Hauptfigur, dem Jungen, das große Ganze überblicken, das Kind jedoch keine Chance hat, das ebenfalls zu tun und Zusammenhänge zu verstehen.

Unverständlich bleibt, dass der Junge ein sehr guter Beobachter ist und das Erlebte in seiner Rolle als Erzähler in passende Worte kleiden kann, er aber nicht den Antrieb aufbringt, Fragen nach seinen Eltern und seinem Bruder sowie seiner eigenen Zukunft zu stellen.

Thomas Oláh hat in drei eigenen Kapiteln Texte über heute (fast) vergessene Forscher oder Künstler eingefügt: Nikolaus Winkel (Erfinder des Metronoms), Christian Doppler (Entdecker des nach ihm benannten Doppler-Effekts) und Marcel Mariën (belgischer Schriftsteller und Kunstkritiker). Den Zusammenhang zwischen der Handlung und den drei Männern konnte ich nur mühsam konstruieren, die Exkurse lenkten von der eigentlichen Handlung eher ab.

Insgesamt hinterlässt Doppler bei mir einen zwiespältigen Eindruck. Den im Klappentext angekündigten Humor habe ich nicht wahrgenommen, über die über der Kernhandlung stehenden Themen wurde in den letzten Jahren bereits oft geschrieben. Der Roman ist trotz dieser Kritik interessant geschrieben und bringt für alle, denen das Landleben vor 50 Jahren und die Prägungen durch den Zweiten Weltkrieg noch fremd ist, etliche Erkenntnisse.

Doppler ist 2023 im Verlag Müry Salzmann erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro.

Der Roman stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 und ist im Rahmen des Österreichischen Buchpreises für den Debütpreis nominiert.


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