Sonntag, 3. Dezember 2023

# 420 - Rezitativ - Ein Spiel mit Erwartungen

1983 erschien mit Recitatif die einzige Erzählung der
späteren Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison in einer Anthologie. Erst in diesem Jahr wurde die deutsche Übersetzung unter dem Titel Rezitativ herausgegeben.

Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank. Darum wurden wir ins St. Bonny's gebracht.

Das ist der Einstieg in die Erzählung, und er stammt von der achtjährigen Twyla, der mit der gleichaltrigen Roberta ein gemeinsames Zimmer in einem Kinderheim zugewiesen wird. Schon in dieser Einleitung liegt eine große Tragik: Die beiden Mädchen müssen ihre Zuhause nicht deshalb verlassen, weil sie Waisen wären, sondern weil man sich dort nicht um sie kümmern kann.

Morrison stellt schnell klar, dass eines der Mädchen weiß und das andere schwarz ist. Es bleibt jedoch unklar, welchem Kind sie welche Hautfarbe zuweist. Aber ist das denn wichtig? Morrisons Spiel mit vermeintlichen Hinweisen hat etwas Entlarvendes: Sie hält ihren Leserinnen und Lesern den Spiegel vor, indem sie demonstriert, wie viele Vorurteile diese gegenüber den Menschen mit der einen oder anderen Hautfarbe (mutmaßlich) haben.

Roberta und Twyla bilden im Kinderheim so etwas wie eine Notgemeinschaft. Die anderen Mädchen sind schon länger im Heim und älter als sie, sodass die beiden versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen, um nicht zu Mobbingopfern zu werden.

Doch dann ereignet sich etwas, was Roberta und Twyla zunächst unwichtig finden. Die Küchenhilfe Maggie stürzt im Obstgarten des Heims. Maggie hat starke O-Beine und kann nicht sprechen. Sie ist ohnehin Zielscheibe des Spotts der großen Mädchen, aber an diesem Tag wird sie von ihnen ausgelacht. Aus Angst vor den älteren Mädchen trauen sich Twyla und Roberta nicht, der Frau auf die Beine zu helfen.

Als die beiden Mädchen kurz nacheinander das Heim verlassen und zu ihren Müttern zurückkehren, verlieren sie sich sofort aus den Augen. Aber im Laufe der Jahre begegnen sie sich mehrmals zufällig, und immer steht das Ereignis um die Küchenhilfe Maggie zwischen ihnen: Die nun erwachsenen Frauen erinnern sich ganz unterschiedlich an das, was nach deren Sturz geschah und machen sich gegenseitig Vorwürfe.

Doch nicht nur die Erinnerung an die Zeit im Heim trennt sie, sondern ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Schichten, die ihnen schon damals in St. Bonny's aufgefallen ist. Aus der Not-Freundschaft von einst entwickelt sich eine ambivalente Bekanntschaft, die zum Schluss um die Frage kreist, ob Maggie schwarz oder weiß gewesen ist.

Lesen?

Im von Zadie Smith stammenden Nachwort beschreibt die britische Schriftstellerin, dass sie sich beim Lesen von Rezitativ ebenfalls af die Suche nach "eindeutigen" Hinweisen auf die jeweilige Hautfarbe von Roberta und Twyla begeben hat und gescheitert ist.
"Wir hören Twyla sprechen, und wir hören Roberta sprechen, und obwohl sie sich klar voneinander unterscheiden, sind wir doch nicht in der Lage, den einen Unterschied zu entdecken, den wir eigentlich entdecken wollen", gibt sie zu.

Auch der Versuch, anhand der Beschreibung der Mütter der Mädchen zu einem Ergebnis zu kommen, scheitert. Smith' Schlussfolgerung ist eine Einladung, ebenfalls zu versuchen herauszufinden, welches der beiden Mädchen eine schwarze bzw. weiße Hautfarbe hat:
"Rezitativ ruft mir in Erinnerung, dass es keine wesenhaft schwarze oder weiße Qualität ist, arm zu sein, unterdrückt, unbedeutend, ausgebeutet, missachtet."

Rezitativ ist 2023 in der Übersetzung von Tanja Handels im Rowohlt Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 20 Euro sowie als E-Book 17,99 Euro.


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