Sonntag, 26. Januar 2025

# 464 - Vom Heidedichter bis zur Schäferromantik mit Fehlern

2014. Jannes Kohlmeyer ist neunzehn Jahre alt und
lebt mit seinen Eltern und seinem Großvater auf einem alten renovierungsbedürftigen Hof in der Lüneburger Heide, einer Landschaft zwischen Hannover und Hamburg. Wie schon Generationen vor ihm ist er Schäfer, während seine ältere Schwester dieses Leben nicht wollte und nach Frankfurt gezogen ist.

Die Heide: Das ist Stille, Nebel und Einsamkeit im Winter und lila blühende Heideflächen und Touristenströme im Sommer. Ohne die Touristen geht wirtschaftlich schon lange nichts mehr, so nervtötend sie manchmal auch sind. Die Ruhe wird vor allem von den Detonationsgeräuschen unterbrochen, die vom Testgelände des Waffenherstellers Rheinmetall in Unterlüß stammen und das Sinnbild für den Roman Von Norden rollt ein Donner von Markus Thielemann sind. Das nahe Munster ist mit seinen Kasernen der viertgrößte Standort der Bundeswehr und trägt zu einer sehr speziellen Atmosphäre bei. Dazwischen ist der Luftwaffenstützpunkt Faßberg, der Ort verdankt seine Entstehung den Nationalsozialisten. Der Schäferhof der Kohlmeyers liegt zwischen Unterlüß und Faßberg.

Auf den ersten Blick versinkt das Leben der Familie im stetigen Einerlei, das sich nur den Jahreszeiten anpasst. Aber schleichend bahnen sich Veränderungen an, die Jannes nicht beeinflussen kann: Seine im Pflegeheim wohnende demente Oma baut stetig ab und redet in Fragmenten immer wieder über ein Ereignis, was von ihrem Mann abgewiegelt und von Jannes' Mutter mit Unverständnis kommentiert wird. 
Jannes' Stiefvater Friedrich ist augenscheinlich ebenfalls auf dem Weg, dement zu werden und versucht diesen Zustand zu kaschieren, indem er sich mit vollem Eifer einem neuen Thema widmet: Seit einiger Zeit gibt es in der Heide angeblich wieder Wolfsichtungen und Risse. Die Gegend um den Kohlmeyerschen Hof ist nicht betroffen, aber man kann ja nie wissen...

Das Vertrauen der Landbevölkerung in die Lokal- und Landespolitiker ist bei nahe null, deshalb entsteht der Plan, das Wolf-Problem selbst in die Hand zu nehmen. Das Repertoire reicht dabei von Mahnfeuern bis zur Überlegung, den heimischen Waffenschrank zu öffnen. Bei den Aktionen sind vor allem Friedrich und der neue Nachbar Karl Röder ganz vorn mit dabei. Wie nebenbei fällt Jannes das seltsame Verhalten und die Lebensart der Familie Röder auf, beides lässt sich am besten mit "völkisch" umschreiben. Friedrich blendet das allerdings aus.

Jannes Großvater lebt nicht nur auf, wenn es um die vermeintliche  Gefahr durch Wölfe geht, die seiner Meinung nach nicht auf die Heide gehören, sondern auch beim Erzählen von alten Geschichten. Am liebsten ist ihm die Erinnerung an seine Heldentat: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hat er einen Wolf erschossen und die Heide von diesem Räuber befreit. Aber stimmt das überhaupt? Jannes, der bislang jeden Tag nahm, wie er kam, wird aus mehreren Gründen hellhörig: Seine Oma erwähnt in ihren verwirrten Gedanken den Namen einer Frau, von der niemand sonst in der Familie etwas gehört haben will, und Jannes erscheint mehrmals eine verwahrloste Frau so authentisch, dass er beginnt, an seinem eigenen Verstand zu zweifeln. Gibt es ein Familiengeheimnis, das mit dem nahen KZ Bergen-Belsen und dessen Außenstelle Tannenberg in Altensothrieth zusammenhängt?

Lesen?

Von Norden rollt ein Donner ist ein Roman voller Metaphern und das Gegenteil der typischen Heimat-Romane, die eine Region idyllisch und oft verkitscht präsentieren. Hier geht es um menschliche Abgründe, politische Entwicklungen und lange gehütete Geheimnisse, die ans Licht kommen. Der Schönheit der Heidelandschaft tut das keinen Abbruch, und der im Buch vielzitierte und immer noch von vielen bewunderte Heideschriftsteller Hermann Löns wird in die Ecke gestellt, in die er gehört: weg von der verschrobenen Heimatromantik und hin zu der Erkenntnis, dass es sich bei ihm um einen Rassisten gehandelt hat.

Markus Thielemann arbeitet eindrucksvoll die Konflikte und Verwerfungen heraus, die sich in der Gesellschaft und in der Familie Kohlmeyer abzeichnen, ohne seine Leserinnen und Leser zu belehren. Ich konnte jedoch mit Jannes' Visionen wenig anfangen, die für mich so wirkten, als habe Thielemann ein Vehikel gebraucht, um eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen. 
Das Auftauchen von Familie Röder, die der damals noch jungen AfD nahesteht, wird nicht weiter vertieft und wirkt leider wie ein loses Ende. 
Unverständlich war, dass ausgerechnet der unter einer beginnenden Demenz leidende Friedrich das stärkste Engagement im Kampf gegen den Wolf gezeigt hat. Dadurch wurden Friedrichs Sorgen herabgesetzt, da zumindest seine Familie ihn immer weniger ernst genommen hat.

Diese Kritik beeinträchtigt den Gesamteindruck jedoch nicht in dem Maße, dass ich den Roman nicht empfehlen würde. Von Norden rollt ein Donner ist ein lesenswerter Roman, der nachdenklich macht.

Das Buch wurde 2024 im Verlag C. H. Beck veröffentlicht und kostet 23 Euro. Von Norden rollt ein Donner stand 2024 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

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