Freitag, 18. Dezember 2015

# 29 - Ein Plädoyer für die Jungen

Was läuft falsch im Umgang mit Jungen?

Da ich selbst Mutter eines Sohnes bin, hat mich das Buch Artgerechte Haltung - Es ist Zeit für eine jungengerechte Erziehung von Birgit Gegier Steiner sehr interessiert. Sowohl im Kindergarten als auch während der Schulzeit hatte ich nicht unbedingt den Eindruck, dass sich Erzieherinnen und Lehrerinnen - ja, Männer waren in diesen Institutionen lange Jahre kaum präsent - an den Bedürfnissen von Jungen orientierten, sondern überwiegend ihre eigene Sichtweise einnahmen. Kleine Rangeleien auf dem Schulhof der Grundschule? Sofort wurde eingegriffen, der Streit (welcher Streit?) "geschlichtet" und oft eine Sanktion ausgesprochen, die auf mich in vielen Fällen wie das Schießen mit Kanonen auf Spatzen wirkte. Und nun dieses Buch, das von einer Autorin stammt, die es wissen muss: Birgit Gegier Steiner ist Leiterin einer Grundschule in der Nähe von Konstanz.


Was ist los mit der Jungen-Erziehung?

 

Das ist die Frage, um die das ganze Buch kreist. Die Autorin hat darauf, wie mit Jungen, die als "anstrengend" empfunden werden, umgegangen werden sollte, die Antworten: Mehr Bewegung in der Freizeit und im Unterricht, in der Schule mehr Möglichkeiten zum aktiven Tun anstelle des passiven Frontalunterrichts. Das alles gepaart mit klaren Regeln und Konsequenzen.

Doch  Birgit Gegier Steiner verlässt gerade im ersten Teil ihres Buchs immer wieder die Jungen mit ihren spezifischen Problemen und schweift ab: zu der Benennung von Ministerien, die das Wort "Frauen" im Namen führen oder der Sinnhaftigkeit des jährlichen "Boysdays", der Jungen zeigen soll, dass es auf dieser Welt auch noch andere als nur technische oder naturwissenschaftliche Berufe gibt. Meiner Ansicht nach verliert sie sich immer wieder in Kleinigkeiten, die man zwar zur Kenntnis nehmen kann, aber die nicht so wichtig sind, dass sie in einem Buch genannt werden müssten.

Richtig ärgerlich wird es, wenn  Birgit Gegier Steiner über die Folgen der zahlreichen Ehescheidungen für die Trennungskinder - oder besser: Trennungsjungs - schreibt. "Die" alleinerziehende Mutter ist der Grund dafür, dass den Jungen nur weibliche Rollenmuster vorgelebt werden. Früher seien Väter zwar "tagsüber weniger präsent" gewesen, aber "sie lebten eine männliche Rolle vor und beschäftigten sich auf ihre Weise mit ihren Kindern, besonders mit den Jungen." Die Autorin mag ja in so einer Familie großgeworden sein, in der der Vater pünktlich Feierabend gemacht hat und dann noch Zeit und Muße hatte, sich mit seinen Kindern zu beschäftigen. Da sie nur wenige Jahre älter ist als ich selbst, vermute ich, dass sie mit ihrer Aussage ihre eigene Generation gemeint hat. In meinem damaligen Freundes- oder Bekanntenkreis waren Väter, die sich in der Erziehung ihrer Kinder engagierten, die Ausnahme. Die meisten waren tagsüber bei der Arbeit und wollten danach ihren Feierabend haben. Das Wochenende war dann für die Familie da, wenn es nichts anderes zu erledigen gab. Die Mütter waren mindestens von montags bis freitags de facto alleinerziehend.
Die Generation davor kann sie nicht gemeint haben: Sie war geprägt vom Krieg und/oder seinen Folgen. Wenn die Väter überhaupt lebend von den Schlachtfeldern zurückgekommen waren, ging es darum, zu überleben. Um die Traumata der Kriegsheimkehrer und der Menschen, die in Bombennächten um ihr Leben gefürchtet hatten, kümmerte sich kein Mensch. Woher kommt also diese Sozialromantik bezogen auf die damalige Entwicklung von Jungen?


Weiterlesen?


An dieser Stelle war ich schon so verärgert, dass ich überlegt habe, ob ich dieses Buch überhaupt bis zum Ende lesen möchte. Aber ist es nicht unfair, schon auf Seite 22 abzubrechen? Ja, eben.
Auch wenn ich zahlreiche ihrer weiteren Forderungen wie z. B. den Weg zur Grundschule zu Fuß und nicht im Mama-Taxi zurückzulegen, ebenfalls richtig finde, fällt mir über weite Strecken auf, dass der Autorin der konkrete Bezug zum Thema Jungen immer wieder abhanden kommt: Es wird von Kindern gesprochen, was ja auch in der Sache richtig ist. Aber sollte es nicht in erster Linie um die Jungen gehen? Auch die Betonung, dass die Gehirnleistung durch Bewegung deutlich gesteigert werden kann, ist keine Neuigkeit mehr, trifft aber auf Jungen ebenso wie auf Mädchen zu. Sollte dann nicht der Unterricht generell an diese Erkenntnisse angepasst werden, wenn Bewegung allen Kindern guttut?

Erst später findet sie zum eigentlichen Schwerpunkt zurück als sie beispielsweise beschreibt, wie schwer es für Frauen ist, bei einer Rauferei unter Jungen einzuschätzen, wann eingegriffen werden sollte. Doch diese Fragestellung wird nur gestreift und nicht weiter vertieft.


Kaufempfehlung?

Ich muss leider sagen, dass ich von Artgerechte Haltung - Es ist Zeit für eine jungengerechte Erziehung etwas enttäuscht war. Da ich auch eine Tochter habe, hatte ich auch immer einen Vergleich: Wie ist der Umgang mit Jungen und Mädchen im Kindergarten und den Schulen? Wie reagieren die Kinder auf die oft sehr unterschiedlichen Bewertungen ihres Tuns dort? Birgit Gegier Steiner vertritt Ansichten, die ich durchaus unterstütze wie beispielsweise den Wunsch nach mehr altersgerechtem Loslassen durch die Eltern, mehr Bewegung, das Zusammenspiel von Grenzen und Konsequenzen etc. Aber das sind Forderungen, die für alle Kinder gelten sollten.

Mir ist das Buch insgesamt nicht stringent genug. Würde man nur die Passagen, die sich ausschließlich mit den Jungen beschäftigen, herausschreiben, wäre es höchstens halb so dick. Auch die ständigen Pauschalierungen gingen mir beim Lesen ziemlich auf die Nerven: Jungs werden bestimmte Verhaltensweisen zugewiesen, Mädchen hingegen andere. Alleinerziehende Mütter und Helikoptereltern bekommen immer wieder ihr Fett weg. Zwischendurch wird Selbsterlebtes aus dem eigenen Alltag als Grundschullehrerin eingestreut.
Vor allen Dingen wegen einiger häufig durchschimmernder Einstellungen zum Thema Familie, die auf mich sehr konservativ wirkten, und der Bewertung von einigen Personengruppen fällt meine Begeisterung leider ziemlich gedämpft aus. 


Ich bedanke mich beim Bloggerportal, das mir dieses Buch zur Verfügung gestellt hat. Artgerechte Haltung - Es ist Zeit für eine jungengerechte Erziehung kann beim Gütersloher Verlagshaus bestellt und in jeder Buchhandlung zum Preis von 17,99 € gekauft werden (Klappenbroschur). Die Kindle-Edition kostet 13,99 €.

 

4 Kommentare:

  1. Wie gut, dass du das ähnlich siehst. Ich hatte ja Angst, dass nach meiner ersten Verärgerung ich dem Buch einfach Unrecht getan habe, aber dem scheint dann wohl nicht so zu sein (:

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    1. Ich habe auch Rezensionen von Bloggern gesehen, die das Buch prima fanden, aber ich war überwiegend genervt. Leider. Mehr Sachlichkeit hätte dem Buch gutgetan.
      LG

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  2. Hallo Ina :) Da bin ich auch schon und hab mich ein wenig in deinem Blog umgesehen. Das Buch hier hört sich ja richtig spannend an. Wird gleich notiert, hab nämlich auch so einen Abenteurer :)

    lass dir liebe Grüße hier

    Sandra (http://www.sandraskreativelesezeit.blogspot.com)

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    1. Liebe Sandra,
      vielen Dank für deinen Besuch :-) Mir hat das Buch nicht so richtig gefallen, und ich hatte früher als Mutter auch viel "Spaß" :D Aber mit Büchern ist es wie mit allen anderen Dingen auch: Die Geschmäcker sind verschieden. Zum Glück ;-)
      Liebe Grüße
      Ina

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