Ein Leben auf Zeit in Kabul
Die Autorin des heutigen Buches Ausgerechnet Kabul - 13 Geschichten vom Leben im Krieg, Ronja von Wurmb-Seibel, beschließt zum ersten Mal im Frühling 2013, in die afghanische Hauptstadt Kabul zu reisen. Bis zu diesem Zeitpunkt verbindet sie mit Afghanistan das, was sich die meisten Menschen vorstellen, wenn sie fernab irgendwo vor dem Fernseher sitzen oder in ihren Zeitungen blättern: Krieg, Terrorismus, die Taliban. Vier Wochen sollen zunächst reichen, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, dort zu leben, wo schon seit vielen Jahren ein Krieg den anderen ablöst: 1979 der Einmarsch der sowjetischen Armee, die erst zehn Jahre später wieder abziehen sollte; ab 1992 ein jahrelanger Kampf in Kabul gegen die Taliban, der 1996 in deren Einnahme der Hauptstadt mündete; immer wieder weitere Vorstöße der Taliban und zusätzlich Kämpfe zwischen verfeindeten Milizen; im Oktober 2001 der Einmarsch der US-Armee und ihrer Verbündeten als Folge der Anschläge vom 11. September 2001; seit 2015 der Abzug der US-Truppen. Und immer wieder die Taliban.
Warum will jemand in einem Krisengebiet leben?
Das wurde Ronja von Wurmb-Seibel auch gefragt: nicht nur von ihren Angehörigen und Freunden in Deutschland, sondern auch von Afghanen. Doch trotz aller Befürchtungen verbringt sie die vier Wochen in Kabul und nutzt diese Zeit so intensiv wie möglich: Sie unterstützt ihren Übersetzer bei dessen Hausarbeit über Leni Riefenstahl, lässt sich von einem Einheimischen die Wirren der Machtspiele in Afghanistan erklären, lernt die ersten Vokabeln auf Dari und übernachtet bei einem Ausflug aufs Land mit einem Mullah und sechs weiteren Männern im selben Zimmer. In diesen vier Wochen wird ihr kurz vor ihrer Rückreise nach Deutschland bewusst, was ihr an diesem krisengeschüttelten Land gefällt: die Menschen mit ihren Witzen und Geschichten, aber auch das Gefühl, dass mit den Wahlen und dem geplanten Abzug der NATO-Truppen im folgenden Jahr etwas Großes und Neues in Afghanistan beginnen könnte.
Doch ihr Interesse an Afghanistan entstand nicht aus sich selbst heraus: 2013 war sie als Praktikantin bei der Wochenzeitschrift DIE ZEIT beschäftigt und stieß auf der Suche nach Themen auf die Meldung, dass die Bundeswehr ihr erstes Feldlager in Afghanistan schließen würde. Sie stellte einen Antrag bei der Bundeswehr, das Lager als Journalistin besuchen zu dürfen und bekam die Genehmigung, sich vor Ort umzusehen: neun Tage in Masar-e-Scharif und weitere fünf Tage in Faisabad. Doch was sie sah, war nicht wirklich Afghanistan, sondern nur ein Stück der Bundeswehr. Zu wenig.
Nach ihrer Rückkehr arbeitet sie für ein halbes Jahr als ZEIT-Redakteurin und beschäftigt sich weiter mit Afghanistan. Genauer: Mit Menschen, die oft schon als Kinder aus ihrem Heimatland geflohen waren und nun, mit dem bevorstehenden Abzug der NATO-Truppen, nach Afghanistan zurück wollten, weil sie den Eindruck hatten, nur dort wirklich etwas für ihr Land tun zu können.
Das gibt für die Autorin den Ausschlag: Auch sie will dorthin, wo sie unmittelbar mit den Problemen Afghanistans konfrontiert ist und nicht nur aus der Ferne über das Land schreiben.
Ronja von Wurmb-Seibel bleibt ein Jahr in Afghanistan. Sie lebt mitten unter den Menschen, schließt Freundschaften, erlebt im Wortsinn Merkwürdiges und lernt die zum Teil für sie irritierenden gesellschaftlichen Gepflogenheiten kennen. Da sind beispielsweise die Listen: Sie entscheiden darüber, ob man "dazugehört" und zu Partys eingeladen wird oder an welchen öffentlichen Orten man sich als Ausländer aufhalten darf. Die erste Sorte kann man durch gute Beziehungen beeinflussen, die zweite stellen die Arbeitgeber auf. Hält man sich an verbotenen Orten auf, kann das für die Arbeitgeber ein Grund für die Kündigung und für Versicherungsunternehmen für die Weigerung zur Schadensregulierung sein, sollte man bei einem Anschlag verletzt oder getötet werden.
Eine für uns ungewohnte Perspektive
Ronja von Wurmb-Seibel zeigt ihren Lesern, wie sie Afghanistan erlebt hat. Ihr ist dabei bewusst, dass sie sich gegenüber den Einheimischen in einer privilegierten Situation befindet: Sie hat sich freiwillig entschieden, einen Teil ihres Lebens dort zu verbringen und kann das Land jederzeit wieder verlassen. Sie verfällt nicht in eine Romantisierung des Landes und seiner Bevölkerung, sondern schildert auch Szenen wie die in einem Frauengefängnis, das sie gemeinsam mit mehreren Anwältinnen am Weltfrauentag besucht: Zahlreiche Insassinnen sind keine Kriminellen, sondern Frauen, die ihr Zuhause und ihre Männer verlassen haben, woraufhin diese sie beschuldigten, "versuchtes Fremdgehen" begangen zu haben - eine Tat, die es im afghanischen Strafrecht nicht gibt, wofür aber auch ohne jegliche Beweise Verurteilungen ausgesprochen werden. Auch Frauen, die ihre Strafe abgesessen haben, müssen befürchten, das Gefängnis nicht verlassen zu können: Dazu ist ein männlicher Verwandter nötig, der sie am Tor abholt.
Ausgerechnet Kabul - 13 Geschichten vom Leben im Krieg zeigt sehr anschaulich, in welcher Situation sich die afghanische Gesellschaft tatsächlich befindet. Nichts davon findet normalerweise den Weg in die deutsche Presse. Kein Wunder, dass unser Bild, das wir von diesem Land weit weg in Asien haben, so wenig differenziert ausfällt. Allen, die mehr über Afghanistan wissen wollen, kann ich dieses Buch unbedingt empfehlen.
Ausgerechnet Kabul - 13 Geschichten vom Leben im Krieg wurde mir vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke. Es ist bei der Deutschen Verlags-Anstalt
erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 17,99 €. Die Kindle- und
epub-Editionen sind für je 13,99 € erhältlich.
Afghanistan ist wirklich ein gebeuteltes Land. Ich glaube nicht, dass es jemals Ruhe finden wird. Zu viele ausländische Wirtschaftsinteressen spielen dort hinein.
AntwortenLöschenDanke für die schöne Buchvorstellung, Ina :-)
Ich habe da auch Zweifel. Da spielen ja auch nicht nur wirtschaftliche, sondern auch Machtinteressen eine Rolle.
AntwortenLöschen