Freitag, 20. August 2021

# 304 - Wie legt man einen Neuanfang hin?

Der fernste Ort, das ist für den Protagonisten Julian
nicht etwa ein weit entfernter Planet, sondern der Ort, an dem er ein neues Leben anfangen will.

Der österreichische Autor Daniel Kehlmann hat in seinem 2001 erschienen Buch das Porträt eines jungen Mannes gezeichnet, der sein Leben als Sackgasse wahrnimmt. Julian arbeitet bei einer Versicherung, aber er ist dort eher hineingestolpert, als dass er sich aus Überzeugung um die Anstellung gekümmert hätte. Er mag seinen Kollegen nicht, und auch sein Chef ist ihm unsympathisch. Ausgerechnet dieser nimmt ihn zu einem Kongress nach Italien mit. Julian soll dort einen wichtigen Vortrag halten.

Zwei Stunden, bevor Julians Rede geplant ist, hat sein Entwurf genau null Wörter. Ein Desaster. Da es jetzt auch nicht mehr darauf ankommt, beschließt er, im See neben dem Hotel schwimmen zu gehen. Der Portier ermahnt ihn, vorsichtig zu sein, erst kürzlich sei hier ein Mann ertrunken. Julian nimmt seine Brille zum Schwimmen ab und sieht seine Umgebung nur noch schemenhaft. Nach wenigen Minuten hat er die Orientierung verloren und spürt, dass aus der Tiefe etwas nach ihm greift und ihn nach unten zieht. Er kämpft um sein Leben und kommt am Ufer wieder zu sich. Wie er dorthin gekommen ist, weiß er nicht. Doch er sieht seine Chance, seinem Leben eine entscheidende Wendung zum Besseren zu geben: Julian will seinen Tod vortäuschen. Sein Ziel: "Ultima Thule", der "fernste Ort" in Norwegen, von dem einst seine Deutschlehrerin gesprochen hatte.

Kehlmann skizziert seine Hauptfigur als einen Menschen, dem Emotionen fremd sind und der alle Ereignisse nur sachlich wahrnimmt. Als Kind steht er im Schatten seines hochbegabten Bruders Paul, der ihn seine Überlegenheit immer wieder spüren lässt. Die Trennung seiner Eltern ruft bei Julian keine Erschütterung hervor, ebenso wenig der Suizid seiner Mutter oder die Totgeburt, die seine Freundin erleidet. Das Abitur besteht er nur mit Pauls Unterstützung, die Uni besucht er antriebs- und interesselos. Seine Doktorarbeit über einen (fiktiven) niederländischen Mathematiker und Philosophen des Barock wird von der Fachpresse verrissen. Seine Umwelt nimmt ihn - wenn überhaupt - als einen Niemand wahr, und das entspricht auch dem Bild, das Julian über sich selbst hat.

Lesen?

Der fernste Ort verfolgt eine Idee, die wahrscheinlich viele Menschen (gehabt) haben: Einfach alles hinter sich zu lassen und irgendwo anders komplett neu anzufangen. Kehlmanns Hauptperson Julian scheint die Gelegenheit beim Schopf zu packen, aber so ganz genau weiß man es nicht. Die Welt um Julian wird mit seinem Erlebnis im See immer surrealer und scheint zu verschwimmen. Da sind plötzlich sein Bruder, der ihm Geld zusteckt, ein Nachtclub-Besitzer, der ihn ohne Bezahlung mit einem Reisepass aus seiner Schreibtischschublade versorgt oder zwei schwarzgekleidete Räuber, die ihm beides wieder abnehmen. Alle diese Personen wirken äußerlich wie Doppelgänger von Menschen, die vor dem Badeunfall Teil seines Lebens waren: Der Nachtclub-Chef hat frappierende Ähnlichkeit mit Julians Chef in der Versicherung, die Räuber sind seinen Kollegen wie aus dem Gesicht geschnitten.

Man ahnt, dass Julian in einer Art Zwischenwelt steckt, in der sich Erinnerungen mit Phantasien zu etwas Neuem vermengen, und auch, dass er Norwegen nicht auf die Art erreichen wird, die er sich vorgestellt hat.

Leseempfehlung? Ich bin unentschlossen.

Der fernste Ort ist 2001 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 17,80 Euro, als Taschenbuch 8 Euro sowie als E-Book 7,99 Euro.

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