Montag, 16. August 2021

# 303 - Die Düsternis lauert in jeder Ecke: ein Krimi aus dem isländischen Hochland

Fast sechs Jahre ist es her, dass ich hier in der Bücherkiste ein Buch eines isländischen Autors vorgestellt habe. Damals war es der auch außerhalb seiner Heimat sehr bekannte Arnaldur Indriðason, heute ist es Ævar Örn Jósepsson, dessen Krimi Blutberg 2009 auf Deutsch veröffentlicht wurde. Auf ihn bin ich zufällig gestoßen.

Das Buch ist der zweite von vier (deutschen) Bänden um Kommissar Árni Eysteinsson, der bei der Mordkommission in Reykjavík arbeitet. Er und seine Kollegen werden nach Ostisland geschickt. Beim Bau des Kárahnjúkar-Kraftwerks kam es zu einem Unfall, bei dem sechs Männer in den Tod gerissen wurden: Ein Felsvorsprung hatte sich plötzlich gelöst und die Menschen unter sich begraben. Bei dem siebten Toten geht man zuerst von einem Selbstmord aus, aber die Kriminaltechniker kommen zu einem anderen Ergebnis. Dass auch der isländische Geheimdienst in betont brachialer Manier auf der Mega-Baustelle auftaucht und ohne Rechtsgrundlage Arbeiter verhaftet, macht die Ermittlungen der Polizei nicht einfacher.

Das Wasserkraftwerk wurde gebaut, um ein Aluminiumwerk mit Strom zu beliefern. Es gehört zu den größten Wasserkraftwerken Europas und hatte vor und während seines Baus in der isländischen Bevölkerung für hitzige Diskussionen gesorgt, da mit dem Bauwerk große Naturflächen zerstört wurden. 
Der Konflikt Ökonomie vs. Ökologie zieht sich durch den ganzen Krimi. Und so verwundert es nicht, dass schon bald erste Zweifel aufkommen, ob dieser Unfall auch tatsächlich einer war: Der einzige Überlebende, ein portugiesischer Arbeiter, sagt seinem besten Freund im Krankenbett, er habe vor dem Felssturz eine Explosion gehört. Da bei der Polizei Droh-Mails von einer Gruppierung namens Grüne Armee eingehen, könnte an dem Verdacht, dass es sich um einen terroristischen Anschlag gehandelt hat, tatsächlich etwas dran sein.

Die knapp 500 Seiten des E-Books waren ziemlich zäh zu lesen. In die Handlung, die sich über zehn Tage erstreckt, reihten sich Klischees und Vorurteile aneinander wie bei einer Perlenschnur: Bei etwa eintausend Männern, die auf der Baustelle beschäftigt sind, sind der Drogenhandel und die illegale Prostitution nicht weit.  Bei Letzterem wird obendrein noch die Tochter eines zu Árnis Team gehörenden Ermittlers aufgegriffen; es ist ausgerechnet der Kollege, der bis zu diesem Zeitpunkt mit Rassismus und Misogynie "geglänzt" und sich um seine fünf Kinder bislang einen Dreck geschert hat. 
Alle saufen wie die Löcher, obwohl Alkohol verboten ist. Die Sicherheitsingenieure verschließen vor sämtlichen Missständen die Augen. Über der Szenerie liegt das lebensfeindliche Wetter des isländischen Winters und die Abgeschiedenheit der Baustelle.

Auch mit Stereotypen, die den verschiedenen Nationalitäten zugeschrieben werden, wird nicht gespart: Die Italiener denken und handeln in mafiösen Strukturen und halten sich in ihrem Feierabend an der Rotweinflasche fest, die Chinesen sind Arbeitsbienen mit einem nonstop im Gesicht festgefrorenen Lächeln, die Portugiesen sind von der Sonne verwöhnte Weicheier... Voller Verwunderung wird zwischendurch registriert, dass auch Isländer kriminell sein können.

Jósepsson nutzt sein Buch auch dazu, um einige für Island relevante Konfliktthemen unterzubringen: Neben der bereits erwähnten Zerstörung der Natur kritisiert der Autor auch den Umgang mit den ausländischen Arbeitern, die für Billiglöhne unter unsagbaren Bedingungen schuften. Die Baufirma hat da schon mal vorgesorgt: Für den schlimmsten Fall hat man in einer Halle ein paar Dutzend Aluminiumsärge gestapelt. 

Die isländische Tageszeitung Morgunblaðið lobte Jósepsson nach dem Erscheinen von Blutberg für dessen "prägnante Dialoge". Tatsache ist: Informationen über den Fortgang der Handlung erfahren die Leser in erster Linie über die Monologe der ermittelnden Beamten. Vor allem Árnis Vorgesetzter Stefán ist in dieser Disziplin ein Experte. 

Lesen?

Blutberg hat so etwas wie ein halboffenes Ende: Der Verantwortliche für den Absturz des Felsens wurde gefunden, aber die Bedrohung des Bauwerks durch dessen Gegner geht weiter. An diesem Punkt hätte Jósepsson auch ankommen können, wenn er seinen Krimi um etwa ein Drittel kürzer gehalten hätte.

Blutberg ist 2009 beim btb Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 8,90 Euro sowie als E-Book 8,99 Euro.


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