Freitag, 6. August 2021

# 302 - Wie ein Leben zerstört wird - Die Geschichte einer Vergewaltigung

In ihrem ersten Roman Scham kennt Inès Bayard keine
Zurückhaltung und keine Tabus. Sie schildert gleich zu Beginn, wie eine kleine Pariser Familie ausgelöscht wird - von der Mutter Marie, die während einer gemeinsamen Mahlzeit zuerst ihren Mann Laurent, dann ihren kleinen Sohn Thomas und zum Schluss sich selbst vergiftet. Für sie und den kleinen Jungen kommt der Tod schnell, Laurent hingegen kann ihm knapp entkommen.

Was muss passieren, damit eine Frau solche eine Tat begeht? Inès Bayard beschreibt das Leben, das Marie und Laurent gelebt haben: Er ist erfolgreicher Anwalt, sie ist eine ebenfalls erfolgreiche Vermögensberaterin in einer Bank. Sie sind seit einigen Jahren verheiratet, und um ihr privates Glück komplett zu machen, fehlt ihnen nur noch ein Kind. Bis dahin ist alles fast schon klischeehaft normal.

Doch dann bekommt die Zweigstelle, in der Marie immer gern gearbeitet hat, einen neuen Generaldirektor, den sie während einer internen Konferenz kennenlernt. Er ist der Typ Mensch, der an das Führen von Mitarbeitern gewöhnt ist. Noch am selben Tag findet sie ihr Fahrrad, mit dem sie nach dem Feierabend nach Hause fahren wollte, zerstört vor. Doch da scheint Hilfe aus einer ungewohnten Richtung zu kommen: Ihr neuer Chef bietet ihr an, sie nach Hause zu fahren. Marie schafft es nicht, sein Angebot abzulehnen und mit der Metro zu fahren, und steigt in sein Auto.

Bei der Schilderung dessen, was nun passiert, fällt es schwer, das Buch nicht aus der Hand zu legen. Nicht, weil es schlecht geschrieben wäre; Bayard beschreibt so detailliert, wie Marie von ihrem Vorgesetzten in dessen Auto vergewaltigt wird, dass man beim Lesen gegen die Übelkeit ankämpfen muss. Die Drohung ihres Chefs, ihre und die Karriere ihres Mannes zu vernichten, sollte sie jemandem erzählen, was passiert ist, lässt sie verstummen. Die Polizei wird nie von dieser Tat erfahren.

Die Vergewaltigung zerstört Maries Leben und stellt alles infrage, was ihr bislang wichtig war. Laurent ist für sie nicht mehr der geliebte Ehemann mit seinen sexuellen Bedürfnissen, sondern jemand, der sich heimlich mit Pornos aufgeilt und nicht merkt, dass seine Frau während des Geschlechtsverkehrs Schmerzen hat und alles über sich ergehen lässt. Den Menschen, die ihr immer wichtig waren, fällt zwar Maries Wesensveränderung auf, aber niemand - auch nicht ihre Schwester, ihre Eltern oder enge Freunde - fragt nach. Die Ignoranz derjenigen, von denen Marie immer glaubte, dass sie ihr besonders nahe stünden, ist sehr irritierend und scheint dem Muster "Es kann nicht sein, was nicht sein darf" zu folgen.

Es gibt im Laufe der Handlung für Marie immer wieder Gelegenheiten, sich zu offenbaren, aber sie entschließt sich dann doch, zu schweigen. Warum? Aus Scham und der Angst, dass das Wissen der anderen um das, was ihr zugestoßen ist, ihren Blick auf die junge Frau verändern könnte.

Dann erfährt Marie, dass sie schwanger ist. Ihre Familie und Freunde freuen sich, aber sie ist verzweifelt: Ist es nicht völlig klar, dass das Kind von ihrem Vergewaltiger sein muss? Als der kleine Thomas geboren ist, empfindet Marie nur Abneigung. Sie lässt den Säugling verwahrlosen und denkt darüber nach, wie sie ihn töten könnte. Nichts soll sie mehr an das schrecklichste Ereignis ihres Lebens erinnern.

Ihr ist mittlerweile alles Zwischenmenschliche fremd geworden. An ihrem Arbeitsplatz ist sie isoliert, und am Verhalten einiger Frauen glaubt sie ablesen zu können, dass diese ebenfalls wie sie vergewaltigt wurden. Sollte man da nicht zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen? Die Abwehr der Frauen deutet sie nicht als ihren Irrtum, sondern als eine Verstörung, wie sie selbst empfindet.

Laurent wird misstrauisch und bittet einen befreundeten Arzt heimlich, einen DNA-Test zu machen. Sollte seine Frau fremdgegangen sein? Durch einen Zufall erfährt Marie davon. Nun steht ihr Plan fest.
Der Arzt spricht das Testergebnis auf Laurents Mailbox, als dieser bereits um sein Leben ringt.

Lesen?

Scham ist über weite Strecken harte Kost. Bayards Schreibstil ist unmittelbar, hart und direkt, wodurch man in das Geschehen hineingezogen, aber gleichzeitig auch abgestoßen wird. Die Gewalt, die Marie angetan wird, stellt Bayard plastisch, aber ohne Effekthascherei dar.

Leseempfehlung? Wem die geschilderten Szenen möglicherweise zu nahe gehen, sollte das Buch eher nicht lesen. Das, was Marie widerfahren ist, geht an einem nicht spurlos vorüber. Bayard ist es gelungen, die Zerrissenheit in Marie sichtbar zu machen und zu erklären, warum diese keinen Weg gefunden hat, sich jemandem anzuvertrauen.

Scham ist 2020 im Paul Zsolnay Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.

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