Gümüşay beginnt ihr Buch mit einer Szene, die sich vor etlichen Jahren zwischen ihr und ihrer Tante abgespielt hat. Es drehte sich um ein türkisches Wort ("yakamoz"), das für die Reflexion des Mondlichts auf dem Wasser steht. Erst seitdem sie diesen Begriff kennengelernt hat, erkennt Gümüşay dieses Phänomen: Die Wahrnehmung wird durch die Sprache beeinflusst. Das belegt sie anhand weiterer Wörter aus anderen Sprachen.
Diese Erkenntnis ist keine Überraschung: Wer ein Buch von einer Sprache in eine andere übersetzt, kommt ohne kulturelle Kenntnisse und Hintergründe beider Sprachen nicht aus, wenn die Botschaft des Textes im Sinne des Autors in der Zielsprache ankommen soll. Und so folgert auch Gümüşay: "So leben manche Gefühle nur in bestimmten Sprachen. Sprache öffnet uns die Welt und grenzt sie ein - im gleichen Moment." Wer sich in mehreren Sprachen ausdrücken kann, wird wahrscheinlich feststellen, sich in jeder als eine etwas andere Person zu fühlen.
In diesem Zusammenhang führt Gümüşay das viel diskutierte generische Maskulinum an: Während Befürworter sagen, dass trotz der männlichen Form (die Lehrer, die Autofahrer, alle Studenten etc.) doch automatisch auch die Frauen mitgemeint seien, weisen immer mehr der "Mitgemeinten" das zurück - und Studien geben ihnen in ihrer Befürchtung recht, dass sie tatsächlich weniger mitgedacht werden.
Gümüşay unterscheidet zwischen den Benannten und den Unbenannten. Die Benannten sind diejenigen, die als von der Norm abweichend empfunden werden, weil sie ein Merkmal haben, das sie als "anders" ausweist: die Kopftuchträgerin, die Muslimin, der schwarze Mann oder die Frau mit Behinderung. Sie werden von den Unbenannten, die die allgemein akzeptierte Norm erfüllen, kategorisiert und auf die eine - aus deren Sicht wesentliche - Eigenschaft reduziert, beurteilt und mit allen anderen, die über dasselbe Merkmal verfügen, in einen Topf geworfen.
Im Kern geht es Gümüşay darum herauszufinden, wie wir miteinander empathisch und vorurteilsfrei kommunizieren können. Aus eigener Anschauung weiß sie, wo das nicht zu gehen scheint: In Talkshows - mit ihr oder ohne sie - wurden eher auf krawallige Art neue Gräben ausgehoben, als dass versucht worden wäre, sich über das Gemeinsame und Verbindende sowie das Zusammenleben Gedanken zu machen.
Gümüşay hat mit ihrer Kritik am hiesigen Umgang mit den sog. Benannten recht. Sie räumt ein, dass es in der menschlichen Natur liegt, sein Gegenüber in die eine oder andere Schublade einzusortieren. Dieses archaische Verhalten hat auch in unserer modernen Welt nicht nur Nachteile: Es schützt uns davor, unter Reizüberflutung zu leiden und hilft uns, durch das Erkennen von Mustern in gefährlichen Situationen angemessen zu reagieren. Das kann jedoch kein Grund sein, dieses Verhalten unreflektiert gegenüber seinen Mitmenschen anzuwenden.
Die Autorin wirft auch einen Blick auf die Einflüsse, die die strukturelle Ausgrenzung weiter befördern: Da sind nicht nur die oben erwähnten Talkshows, sondern auch die schwerpunktmäßige Themenauswahl in politischen Fernsehsendungen, der Einfluss der Social-Media-Plattformen oder die Aktivitäten rechter Spin-Doctors, die ein verzerrtes Bild von der Realität zeichnen.
So emotional diese existierenden (sprachlichen) Missstände von Kübra Gümüşay geschildert werden, so wenig gewährt sie Einblick in ihre eigenen religiösen An- und Einsichten. Als Leser erfährt man kaum, was den Menschen Kübra Gümüşay ausmacht - wäre das nicht nötig, um ein Zeichen gegen die ständigen Kategorisierungen zu setzen? Auch der kritische Blick auf ihre eigene Religion und ihre weltlichen Vertreter fällt sehr knapp aus.
Lesen?
Sprache und Sein ist grundsätzlich ein lesenswertes Buch. Wenn Gümüşay schreibt: "Jedes Wort hat Wirkung. Menschen verändern sich durch die Worte, mit denen wir sie beschreiben. Sie werden zu dem, was ihnen zugeschrieben wird", kann man ihr nur zustimmen. Wie sich so eine selbsterfüllende Prophezeiung im Alltag auswirkt, lässt sich z. B. in dem 1983 erschienenen Buch Anleitung zum Unglücklichsein des österreichischen Psychologen Paul Watzlawick sehr anschaulich nachvollziehen. Das Phänomen und dass darüber geschrieben wird ist also keineswegs neu, es ist aber gut, dass es wieder mehr ins Bewusstsein der Menschen gerückt wird.
Irritierend wirkt teilweise allerdings die Auswahl der Zitate, die das Buch durchziehen. Warum eine Feministin wie Gümüşay z. B. ausgerechnet auf ein Zitat von Friedrich Nietzsche zurückgreift, der mit zahlreichen frauenfeindlichen Äußerungen "geglänzt" hat, erschließt sich mir nicht.
Was mich aber deutlich mehr gestört hat, ist die Festlegung auf die gesprochene und geschriebene Sprache. Sprache ist schließlich nicht nur verbal, sondern besteht auch aus einem breiten nonverbalen Spektrum von Symbolen bis zur Gestik und Mimik. Ausgrenzung kann auch durch einen verächtlichen Blick oder eine Beschilderung erzeugt werden.
Und was letztlich auch nicht durchdacht ist, ist die Einteilung der Menschen in die Benannten und Unbenannten. Nicht nur, dass es sich dabei um sehr große Schubladen handelt, gegen die Gümüşay doch eigentlich anschreibt; diese Art der Kategorisierung verkennt, dass mit den Frauen eine Hälfte der Bevölkerung immer wieder mit Misogynie und damit Ausgrenzung konfrontiert wird und das, obwohl es sich bei ihnen nicht um eine andersartige Randgruppe handelt. Doch nach Gümüşays Definition gehören sie zu den Unbenannten, die über Privilegien verfügen.
Auch Gümüşays Nähe zur islamischen Bewegung Millî Görüş mit ihrem Antisemitismus und ihrer Integrationsfeindlichkeit sowie einer Ideologie, die durch Minderheiten- und Frauenfeindlichkeit sowie Homophobie geprägt ist, ist irritierend und mit der Kübra Gümüşay, wie sie sich selbst ihrem Buch beschreibt, nur schwer in Einklang zu bringen.
Sprache und Sein ist 2020 im Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 18 Euro.
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