Samstag, 19. Februar 2022

# 337 - Das Schweigen am Fjord

Die dänische Schriftstellerin Stine Pilgaard war in Deutschland bislang unbekannt, aber das dürfte sich mit ihrem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch Meter pro Sekunde ändern.

Eine namenlose Ich-Erzählerin zieht mit ihrem ebenfalls namenlosen Freund und dem gemeinsamen kleinen Sohn für ein Jahr von Kopenhagen in das Dorf Velling. Der Freund hat dort eine Stelle als Lehrer bei der örtlichen Heimvolkshochschule bekommen, die auch die Wohnung der kleinen Familie stellt.

Velling liegt in Westjütland beschaulich an einem Fjord, hat weniger als 300 Einwohner, deren Häuser sich mit zum Teil großen Abständen längs der Durchgangs- und der wenigen Seitenstraßen verteilen. Es gibt eine Kirche, ein Lebensmittelgeschäft, zwei Schulen und jede Menge Gegend: Landwirtschaft und Windräder prägen das Bild rund um den Ort. Würden nicht hier und da ein paar Hecken oder Baumgruppen wachsen, würde sich der Blick irgendwo am Horizont verlieren. 

Für die junge Mutter ist das Leben in Velling ein Kulturschock. Kopenhagen war laut und lebhaft, die Menschen in Velling sprechen nur formal gesehen ihre Sprache: Im Alltag spürt die Erzählerin bei jeder Begegnung mit den Einheimischen, das sie anders ist. Sie muss sich mithilfe ihres Freundes ein ganz anderes Kommunikationsverhalten antrainieren und begreift, dass nicht jedes zufällige Treffen beim Einkaufen in ein geistig anspruchsvolles Gespräch münden sollte. Genauer: keines. Wer das Klischee über das Gesprächsverhalten der Norddeutschen kennt, weiß, was ich meine.

Die Begegnung mit dem in Dänemark populären Journalisten Anders Agger wird für die Erzählerin zu einem Highlight. Er gibt ihr wertvolle Hinweise, wie sie mit den Menschen in Westjütland kommunizieren sollte, um nicht anzuecken: Die Gemeinschaft ist wichtig, es sollen die Gemeinsamkeiten und nicht die Unterschiede thematisiert werden und Sex ist absolut tabu.

Und noch etwas macht der Erzählerin zu schaffen: Kaum angekommen, spürt sie das Ausmaß der sozialen Kontrolle der Dorfgemeinschaft. Insbesondere die Leiterin der Heimvolkshochschule erweist sich darin als eine Meisterin. Als sie erfährt, dass das junge Paar nicht verheiratet ist, kommentiert sie das mit den Worten: "Dann schau zu, dass sich das ändert." Ähnlich pragmatisch und konservativ geht sie mit den Themen Kindstaufe ("Da reden wir noch drüber") und Namensfindung für das Baby um und greift sofort zum Telefon, als es darum geht, der Erzählerin eine Stelle zu verschaffen.

Letzteres erweist sich als Glücksgriff, denn aufgrund dieser Intervention bekommt die junge Mutter bei der örtlichen Tageszeitung eine Stelle als "Kummerkasten". So öde und merkwürdig sie das Dorfleben findet, so sehr füllt sie diese neue Tätigkeit aus. Die anonymen Zuschriften der Leserinnen und Leser decken deren gesamte Gefühls- und Lebenswelt ab: Da ist zum Beispiel der Lehrer, der ein heimliches Verhältnis mit einer volljährigen Schülerin hat, oder eine verheiratete Frau, die in der Nähe eines anderen Mannes weiche Knie bekommt. Alle erhalten ausführliche und einfühlsame Antworten, die immer auch Anekdoten oder Erlebnisse der Erzählerin enthalten.

Ohne Auto ist man in Velling aufgeschmissen. Deshalb nimmt die Erzählerin Fahrstunden, die ihren wechselnden Fahrlehrern eine Menge Geduld und Selbstbeherrschung abverlangen. Auch das ist in das soziale Umfeld eingebettet und wird kommentiert und beobachtet. Nur unnötig viele Worte werden nicht gemacht. Die Stille der Menschen passt zu der der Landschaft, in der sie verwurzelt sind.

Letztendlich ist das Leben in der dänischen Einöde doch nicht so trostlos, wie es zunächst den Anschein hatte. Mit viel Witz erzählt Stine Pilgaard von den Sorgen und Nöten der kleinen Familie, wie es sie auch woanders gibt: der Kritik der Tagesmutter an der Kleidung und der Länge der Fingernägel des namenlosen Sohnes, der Eifersucht der Erzählerin gegenüber den Schülerinnen, die für ihren gutaussehenden Freund schwärmen, oder der beharrlichen Angewohnheit des kleinen Sohnes, jedes Ding mit dem Kommentar "Muuuh!" zu bedenken.

Pilgaard führt ein weiteres Element in ihren Roman ein, das vermutlich eher die dänischen Leserinnen und Leser begeistern dürfte: Sie textet Lieder aus dem Liederbuch der Heimvolkshochschulen so um, dass sie zu ihrer eigenen Lebenssituation passen. Da es diese ausgeprägte Tradition der in Dänemark verbreiteten Heimvolkshochschulen in Deutschland nicht gibt, lenkt das eher ab. 
Ich habe gelesen, dass der renommierte Übersetzer dieses Buches, Hinrich Schmidt-Henkel, am Ende des Buches erläutert, was es mit den Heimvolkshochschulen auf sich hat. Da es diesen Abschnitt im Hörbuch nicht gibt, kann hier oder hier nachgelesen werden, was es mit dieser Schulform auf sich hat.

Lesen?

Meter pro Sekunde ist das in Dänemark erfolgreichste Buch der letzten Jahre, wofür Stine Pilgaard mit dem Literaturpreis De Gyldne Laurbær ausgezeichnet wurde. Für das Verständnis hilft es, sich ein paar Kenntnisse über die dänischen Heimvolkshochschulen und ihre Bedeutung für die Bildung der Bevölkerung anzueignen. Um zu ermessen, in welcher Landschaft der Roman spielt, ist ein Blick darauf mithilfe eines bekannten Online-Routenplaners hilfreich.
Obwohl ich normalerweise einen Bogen um Hörbücher mache, hat mich dieses besonders überzeugt: Es wird von der Schauspielerin Caroline Peters (bekannt aus der Serie Mord mit Aussicht) gelesen, die das wirklich großartig macht. Nur das Singen der Lieder hat sie sich verkniffen, sie werden von ihr in einem Summton vorgetragen.

Meter pro Sekunde ist im Februar 2022 im Kanon Verlag erschienen und kostet sowohl als gebundenes Buch sowie als Hörbuch-Ausgabe (Laufzeit ca. sechs Stunden) 23 Euro.

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