Freitag, 16. Juni 2023

397 - Das stille Verschwinden einer Lebensform - ausgezeichnet mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023

Ewald Frie ist Professor für Neuere Geschichte und seit
knapp zwei Wochen Preisträger des Deutschen Sachbuchpreises 2023. Für das Schreiben seines Bestsellers Ein Hof und elf Geschwister hat ihm sicher sein Beruf geholfen, aber auf jeden Fall sein familiärer Hintergrund: Frie (Jg. 1962) und ist das neunte von elf (überlebenden) Kindern, die zwischen 1944 und 1969 geboren wurden. Die Familie bewirtschaftete einen Hof in der Bauerschaft Horst bei Nottuln. Der Vater war ein im Münsterland geachteter Rinderzüchter. Für eines seiner rotbunten Tiere gewann er 1950 auf der Westfalenschau in Münster eine Auszeichnung. Rotbunte Rinder geben etwas weniger Milch als ihre schwarzbunten Verwandten, sie haben jedoch mehr und besseres Fleisch als diese. Danach richtete sich damals die Züchtung aus.

Frie blickt auf eine Kindheit und Jugend zurück, in der viele Umbrüche stattgefunden haben. Da ihm jedoch bewusst ist, dass der Zeitpunkt seiner Geburt seine Sicht auf die Familiengeschichte sowie die Veränderungen in der Landwirtschaft entscheidend beeinflusst, hat er sich im Sommer 2020 auf den Weg gemacht und alle seine Geschwister - vier Schwestern und sechs Brüder - interviewt. Wie wuchsen sie als Bauernkinder auf? Was hat ihren Alltag bestimmt? Welche der ihnen aufgetragenen Arbeiten machten sie gern und welche empfanden sie als schlimm? Wie war der Kontakt zu den Nachbarn und wie der zum Dorf? Was haben sie damals vermisst? Worauf blicken sie positiv zurück?

Die Antworten der Geschwister sowie das Ergebnis einer gründlichen Recherche ergeben ein Bild der drastischen Veränderungen in der Landwirtschaft, die hier exemplarisch für den Hof Frie und die Bauerschaft dargestellt werden, sich aber sehr ähnlich in ganz Deutschland abgespielt haben. Am deutlichsten wird dies mit einem Blick zurück in die 1950-er und 1960-er Jahre: Kam die bäuerliche Verwandtschaft zu Besuch, war ein Rundgang durch den Rinderstall, bei dem die Männer fachsimpelten, immer üblich. Die Frauen sahen sich zeitgleich die eingeweckte Obst- und Gemüseernte an, die die Regale füllte.

Frie stellt auch fest, dass der Beruf des Bauern in dieser Zeit sehr viel öffentlicher war: Eine repräsentative Umfrage ergab 1955, dass das Melken auf dem fünften Platz der Tätigkeiten stand, die die Menschen sich zutrauten - nach Radfahren, Suppe kochen, schwimmen und stricken, aber vor Auto fahren. Welche Kuh wird heute noch von Hand gemolken? Auf Hoffesten steht manchmal eine Holzkuh, an der man sich ausprobieren kann. Das hat mit der Realität nichts mehr zu tun. Die Verbraucher haben kein konkretes Bild mehr von der Arbeit der Bauern und sich von der Landwirtschaft entfremdet. 
Vor etwa 60 Jahren sahen jedoch auch diejenigen, die mit der Landwirtschaft nichts zu tun hatten, Bauern arbeiten, vielfach noch lange mithilfe von Pferden oder Kühen, die den Pflug zogen. Das Berufsbild war insgesamt öffentlicher als heute.

Das Buch veranschaulicht, wie sich die Lebenswelt der Bauern nach und nach veränderte. Hatte man zuerst noch Personal, wurde dies mit der fortschreitenden Technisierung nicht mehr benötigt. Es kam der Zeitpunkt, an dem nur noch Familienmitglieder auf dem Hof arbeiteten. Die Anschaffung eines Traktors zog Folgeinvestitionen nach sich. Um den Hof zu modernisieren, wäre der Bau neuer Wirtschaftsgebäude nötig gewesen. Doch Vater Frie war dazu 1960 nicht mehr bereit: Er war nun fünfzig Jahre alt. Ewald Frie weist auf dessen starke körperliche Belastung nach Jahrzehnten in der Landwirtschaft hin: "Seine beste Zeit lag hinter ihm. Seinem Körper waren die harten Arbeitsjahre bereits anzusehen." Frie sen. registrierte, dass sich die Anforderungen an die Rinderzucht verändert hatten: Fleisch wurde weniger wichtig, nun war die Milchmenge das bedeutendste Kriterium, um die Qualität eines Tieres zu beurteilen. Fries Erfahrungen und Kenntnisse hatten sich überholt.

Aus dem, was Fries Geschwister über ihr Leben auf dem elterlichen Hof erzählen, wird sehr deutlich, wie sehr sich ihre Wahrnehmung unterschied aufgrund ihres Alters und welchen Einfluss die fortschreitenden gesellschaftlichen Veränderungen auf ihren Alltag hatten. Beurteilten die älteren die Gefriergenossenschaft, bei der sich mehrere Landwirte Gefriertruhen teilten, als Fortschritt, wurde sie von den jüngeren amüsiert belächelt. Auch das Verhältnis zu den Dorfbewohnern gestaltete sich je nach Alter der Brüder und Schwestern unterschiedlich.

Ewald Frie betrachtet auch die Lebensumstände der Bäuerinnen und deren Kinder bis in die 1970-er Jahre hinein, die gelinde gesagt hart waren. Fries Bruder Kaspar, der einige Jahre in einem kirchlichen Internat verbrachte, beschrieb, wie seine Sommerferien verliefen: "Sommerferien - du kamst nach Hause, umziehen, arbeiten. So. Und es gab ja keinen Tag, wo du nichts machen musstest, und nachher waren die Ferien zu Ende, wieder zum Internat."
Bevor Wasserleitungen in die Wohnhäuser und Ställe verlegt wurden, war es die Aufgabe der Bäuerinnen, die Tiere zu tränken. Eine Untersuchung über diese Zeit stellt fest, dass eine Bauersfrau täglich 461 Liter Wasser trug. Der gerade Gang war damals ein Anzeichen für ein auskömmliches Leben.

Auch der Hof Frie wurde moderner, aber nicht modern genug. Weniger Einnahmen führten zu geringeren Investitionen. Die Geschwister spürten immer wieder den Geldmangel, vor allem die jüngeren, die eine stärkere Verbindung zum Dorf hatten und sich eher mit anderen Kindern verglichen. Es zeichnete sich ab, dass der Hof in seiner bisherigen Form nicht mehr lange bestehen würde. Das hatte selbstverständlich für alle Kinder Konsequenzen.

Lesen?

Ich kenne die Landwirtschaft vor dem Umbruch nur aus den Erzählungen meiner Eltern, die in einer ähnlichen Umgebung wie die Frie-Geschwister aufgewachsen sind, wenn auch nicht in Nordrhein-Westfalen. Als ich ein Kind war, habe ich erlebt, wie die letzten Schweine aus dem Stall meiner Großmutter abgeholt wurden. Deshalb hat mich das, was Ewald Frie in seinem Buch Ein Hof und elf Geschwister schildert, sehr interessiert. 

Was Frie beschreibt, trifft der Untertitel seines Buches genau: Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben. Mit diesem Abschied geht der Untergang einer eigenen Lebensanschauung sowie eines Familienmodells innerhalb eines Berufsstands einher, mit allen Vor- und Nachteilen. Ein Hof und elf Geschwister hätte ebenso in anderen Teilen Deutschlands angesiedelt sein können, die Entwicklung ist überall ganz ähnlich verlaufen.

Das Buch hat seine Entstehung übrigens der Corona-Pandemie zu verdanken: Da Institute und Archive 2020 geschlossen wurden, musste Frie andere Projekte auf Eis legen und konnte sich um dieses kümmern. Man kann seine Zeit schlechter nutzen, als ein so interessantes Werk zu verfassen, das sogar noch den Deutschen Sachbuchpreis bekommen hat.

Ein Hof und elf Geschwister ist 2023 im Verlag C.H. Beck erschienen und kostet als gebundenes Buch 23 Euro, als E-Book 17,99 Euro sowie als Hörbuch 18,95 Euro.

 


2 Kommentare:

  1. Das klingt interessant, schöne Rezension!

    Täglich 461 l Wasser tragen, wow, das hat mich gerade sehr beeindruckt.

    Liebe Grüße

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    1. Vielen Dank! Das Buch hat mir sehr gut gefallen, und mir ging es beim Lesen dieser Wassermenge wie Dir. Mir haben die Frauen sehr leid getan.
      Liebe Grüße

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