Freitag, 9. Juni 2023

# 396 - Chemieunterricht im Kochstudio

Elizabeth Zott ist Chemikerin. Damit könnte eigentlich
vieles gesagt sein, aber das ist es nicht. Der Haken ist: Zotts Geschichte beginnt in Bonnie Garmus' Debütroman Eine Frage der Chemie Anfang der 1950-er Jahre an einer Universität in Kalifornien. Die USA sind damals hinsichtlich der Frauenrechte sehr konservativ. Die ideale Frau sieht ihre Erfüllung in einer Heirat und der Erziehung von Kindern, das Heim hat sauber und die Mägen der Familienmitglieder haben voll zu sein. Wenn eine Frau überhaupt berufstätig ist, dann nur in untergeordneten und schlecht bezahlten Positionen.

Doch Elizabeth Zott, die die Welt nur unter logischen Gesichtspunkten beurteilt, leuchtet dieses Lebenskonzept nicht ein. Sie hat einen Master-Abschluss in Chemie und sieht ihren Platz im Labor einer Hochschule. Die für die Karriere wichtige Promotion hat sie nicht erreicht, weil sie den Versuch ihres akademischen Betreuers, sie zu vergewaltigen, durch effektive Gegenwehr verhindern konnte. Da ihr der Übergriff ihres Doktorvaters von offizieller Seite nicht geglaubt wird, wird ihr die Zulassung zum Promotionsprogramm entzogen.

Elizabeth Zott ist überaus scharfsinnig und geht trotz aller Rückschläge unverdrossen davon aus, dass das menschliche Handeln nur rational bestimmt sein sollte. Dass sie so zur Außenseiterin wird, nimmt sie in Kauf. Ihr Leben ändert sich deutlich, als sie zufällig den brillanten Chemiker Calvin Evans kennenlernt, der bereits mehrmals für den Nobelpreis nominiert wurde. Sie setzen sich über alle Konventionen hinweg und leben als unverheiratetes Paar zusammen. Calvin möchte Elizabeth heiraten, aber die junge Frau ist auch hier konsequent: Sobald sie Calvins Frau ist, würde sie seinen Nachnamen annehmen müssen und wäre als Mrs Evans nur noch ein Anhängsel ihres Mannes, aber keine eigenständige Person mehr.

Elizabeth wird schwanger. Doch bei einem Unfall kommt Calvin mit nur 28 Jahren ums Leben, bevor die gemeinsame Tochter geboren wird. Die Hochschulleitung schwingt die Moralkeule und entlässt Elizabeth, weil man keine unverheiratete Schwangere im Kollegium duldet. Mit der Geburt der kleinen Mad ist Elizabeth eine alleinerziehende mittellose Mutter.

Durch einen Zufall lernt sie Walter Pine, den Produzenten von Nachmittagssendungen im örtlichen Fernsehstudio, kennen, der sie überredet, der Mittelpunkt einer täglichen Kochshow zu werden. Elizabeth hat Schwierigkeiten, sich in dieser Rolle zu sehen, aber irgendwoher muss ja das Geld kommen. Zu ihrer und Walters Überraschung wird die ungewöhnliche Sendung "Essen um sechs" zum Quotenhit, obwohl sich Elizabeth nicht an das für sie vorgesehene Skript hält. Anstatt nur lächelnd in den Töpfen zu rühren, erklärt sie dem Publikum, welche chemischen Prozesse für das Gelingen der Gerichte verantwortlich sind. Anstelle einer Schürze trägt sie einen Laborkittel. Am Ende einer jeden Sendung sagt sie in die Kamera: "Kinder, deckt den Tisch. Eure Mutter braucht einen Moment für sich." Klar, dass das nicht jedem gefällt. Die Misogynie lauert hinter jeder Ecke. Als Elizabeth dann noch beiläufig erwähnt, dass sie Atheistin ist, bricht etwas über sie herein, was man heute als Shitstorm bezeichnen würde.

Lesen?

Eine Frage der Chemie ist sehr unterhaltsam und spannend geschrieben, sorgt jedoch oft dafür, dass sich beim Lesen der Blutdruck erhöht. Wir reden zu Recht oft und anhaltend darüber, welchen Ungerechtigkeiten heutige moderne Frauen ausgesetzt sind - trotz einer mehr als 100-jährigen Emanzipationsgeschichte. Aber das, was Elizabeth Zott hier widerfährt, ist eine Aneinanderreihung von Zumutungen, die nichts anderes zum Ziel haben, als kluge Frauen wie sie klein zu halten und mundtot zu machen. 

Habe ich gerade "Lesen" geschrieben? Ich habe das Buch nicht gelesen, sondern gehört. Das Hörbuch ist bei Osterwoldaudio, einem Imprint von Hörbuch Hamburg, erschienen und wird von Luise Helm großartig gesprochen. Das wurde mit dem Deutschen Hörbuchpreis 2023 in der Kategorie "Beste Unterhaltung" honoriert.

Eine Frage der Chemie ist 2022 als Buch im Piper Verlag zum Preis von 24 Euro erschienen. Das Hörbuch kostet 16,95 Euro, das E-Book 19,99 Euro.

Hinweis: Die Kombination aus kochen und Chemie gab es in der Bücherkiste vor einiger Zeit bereits mit dem Sachbuch Was uns schmeckt und was dahinter steckt, das von der promovierten Chemikerin Nikola Schwarzer geschrieben wurde. Auch dieses Buch ist sehr empfehlenswert.

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