Montag, 5. Juni 2023

# 395 - Gespräche voller Erkenntnisse

Der Publizist und Schriftsteller Max Dax hat Erfahrung
darin, sich mit einer besonderen Gesprächsführung auf Augenhöhe mit seinen Interviewpartnerinnen und -partnern zu begeben und ihnen zahlreiche Informationen zu entlocken. 1992 gab er das erste Exemplar der Zeitschrift "Alert" heraus, das wie sein von Andy Warhol veröffentlichtes Vorbild "Interview" darauf setzte, die Interviewten nicht zu provozieren und keine Dissonanzen entstehen zu lassen. "Alert" gab es immerhin zwölf Jahre auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt.

Dax' Buch Dreißig Gespräche (veröffentlicht 2008) wurde zu einem Interview-Klassiker. Mit Was ich sah, war die freie Welt knüpft er daran an und stellt erneut Interviews mit mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten vor. 
Für den Einstieg wird jedoch Dax befragt. Die Publizistin und Autorin Katarina Holländer befragt ihn in einem per E-Mail geführten Interview u. a. nach seiner Motivation für die Gespräche und deren besonderem Wesen.   

Die spezielle Atmosphäre offenbart sich jedoch schon gleich beim ersten Interview, das Dax 2021 mit Horst Scheuer geführt hat. Scheuer ist ein insbesondere in Wien bekannter Gastronom, der dort und in Berlin mehrere Lokale betrieben hat, die zu Publikumsmagneten wurden. Dax' Fragen sind durch Wohlwollen geprägt, ohne dass sich der Autor anbiedern würde. Sie sind wie ein Schubs, den man einem Ball gibt, und bringen den interviewten Scheuer zum Erzählen - auch über die eigentliche Fragestellung hinaus. Schnell fallen die ersten Namen: Michel Würthle, Ingrid und Oswald Wiener sowie ihre Tochter Sarah (genau, die Fernsehköchin). Ihnen wird man in diesem Buch noch gesondert begegnen, und sowohl sie wie auch alle anderen Interviewpartnerinnen und -partner werden sich Dax öffnen und viel von sich preisgeben.

Der Untertitel des Buches 24 Gespräche über die Vorstellungskraft weist darauf hin, was alle, die hier zwischen 2001 und 2021 zu Wort gekommen sind, in ihrem Leben angetrieben hat: die Vorstellung dessen, was sein könnte und was sie erreichen könnten.
Der Kanon Verlag bewirbt das Buch auf seiner Homepage unter anderem mit diesem Satz: "
Max Dax verführt 24 weltberühmte und prägende Künstler: innen unserer Zeit zu den überraschendsten Antworten." Tatsächlich sind es ein paar mehr, denn in einem Fall handelt es sich nicht um ein Interview, sondern in einer Oral History tauschen sich u. a. der Schauspieler Bruno Brunnet, der Künstler Günter Brus, die Gastronomen Stephan Landwehr und Michael Würthle sowie das Ehepaar Wiener und ihre Töchter über das einst in Berlin legendäre Lokal "Exil" aus, in dem etliche Promis wie z. B. David Bowie, Quincy Jones oder Max Frisch ab 1972 ein und aus gingen. Amüsant liest sich der kurze Hinweis auf Christo: Der damals noch unbekannte Verpackungskünstler war gerührt, als ihm Sarah Wiener seinen Nachtisch einpackte.

Dax' Hinweis auf "weltberühmte" Künstler im Untertitel stimmt vermutlich nur, wenn man sich wie er seit Jahrzehnten in der Kunst- und Kulturszene bewegt. Mir waren selbstverständlich Grace Jones, Yoko Ono oder Björk bekannt. Namen wie Joe Zawinul, Mimmo Siclari oder Irmin Schmidt machten mich jedoch ratlos. Zum Glück lassen sich solche Bildungslücken in Sekundenschnelle beheben: Der Österreicher Zawinul war einer der einflussreichsten Jazz-Musiker des letzten Jahrhunderts, der Italiener Siclari hat Lieder der kalabresischen Mafia, der 'Ndrangheta, seit den 1970-er Jahren auf Musik-Kassetten eingesungen, und Irmin Schmidt ist einer der Gründer der 1968 gegründeten Avantgarde-Band CAN, die vor allem in den 1960-er und 1970-er Jahren ihre Erfolge hatte.

Die Interviews mit ihnen zu lesen, ist für sich genommen schon spannend. Doch es ist wirklich hilfreich, parallel zur Lektüre die Musik der Künstler zu hören und in ihre Zeit einzutauchen. Das gilt beispielsweise auch für Tony Bennett, mit dem sich Dax 2015 unterhalten hat. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich den 1926 geborenen Sänger und Entertainer in meiner Jugend als Interpreten von, nun ja, Kitsch wahrgenommen habe. Tatsächlich gehört er zu den bekanntesten Jazz-Interpreten der Welt und hat mit Lady Gaga zwei Alben aufgenommen (2014 und 2021). Ein gemeinsamer Auftritt der beiden im Jahr 2021 war gleichzeitig auch Bennetts letzter: Seine 2016 diagnostizierte Alzheimer-Erkrankung lässt es nicht mehr zu, weiterhin musikalisch tätig zu sein.

Lesen?

Was ich sah, war die freie Welt ist so etwas wie eine Entführung. Bekannte Persönlichkeiten öffnen sich Dax gegenüber auf eine andere Weise, als man es von Interviews der (Boulevard-)Presse gewohnt ist. Man reist mit ihnen Jahrzehnte in der Kulturgeschichte zurück und erhält Informationen über Zusammenhänge und Hintergründe, die man woanders noch nicht gelesen hat. An dieser Stelle wiederhole ich meinen Tipp, parallel zum Lesen die jeweils genannte Musik zu hören.

Was ich sah, war die freie Welt ist 2022 im Kanon Verlag Berlin erschienen und kostet als gebundenes Buch 28 Euro.

Tipp: Noch mehr Interviews von und mit Max Dax gibt es hier.

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