Sonntag, 28. Mai 2023

# 394 - Stella Goldschlag, die Greiferin der Nazis

Vor etwas mehr als vier Jahren habe ich hier über das Buch Stella von Takis Würger geschrieben. Der Roman wurde damals breit diskutiert, weil er einen wahren Kern - junge Jüdin verrät andere Juden an die Gestapo, um die eigenen Eltern zu retten - enthält, Würger aber eine fiktive Liebesgeschichte zwischen der "Greiferin" und einem lebensfremden Schweizer drumherum gebastelt hatte, was von vielen Leserinnen und Lesern als unangemessen empfunden wurde. 

Bereits 1993 wurde die erste Fassung des autobiografischen Buches Stella Goldschlag - Eine wahre Geschichte vom Steidl Verlag herausgebracht. Der Journalist und Autor Peter Wyden, der 1923 als Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren wurde und vor seiner Emigration in die USA Peter Weidenreich hieß, hat sich hierfür viel Zeit genommen und sowohl eigene Erinnerungen an Stella Goldschlag als auch Informationen von Zeitzeugen und aus historischen Quellen verwendet, um ein möglichst genaues Bild der Frau zu zeichnen, die auch dann, als ihre Eltern nicht mehr zu retten waren, nicht damit aufgehört hat, allein oder in Begleitung eines anderen Greifers durch Berlins Straßen zu streifen und Juden an die Gestapo auszuliefern. Dabei hatte sie auch keine Skrupel, Freunde zu verraten.

Wyden lernte Stella kennen, als sie in den 1930-er Jahren gemeinsam die Leonore-Goldschmidt-Schule in Berlin besuchten. Die Nazis hatten sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte von den staatlichen Schulen ausgeschlossen. Deshalb gründete die jüdische Pädagogin Leonore Goldschmidt in Berlin eine Privatschule, um die Schulbildung der jüdischen Kinder und Jugendlichen sicherzustellen. Wyden war zu diesem Zeitpunkt elf, Stella zwölf Jahre alt. Schon damals fiel sie durch ihre außergewöhnliche Erscheinung auf: Sie sah gut aus, war intelligent, hatte etliche Begabungen und konnte Menschen um den Finger wickeln. Ihre Eltern waren nicht vermögend, sodass Stella nur mithilfe eines Stipendiums die Schule besuchen konnte. Doch was sie mehr störte als die Mittellosigkeit ihre Familie war ihr Jüdischsein. Sie hasste diese Tatsache und war froh, dass sie wegen ihrer blonden Haare und blauen Augen meistens für eine Arierin gehalten wurde.

Stella wurde von ihren Eltern wie eine Prinzessin behandelt. Sie war ihr einziges Kind und stand zu Hause immer im Mittelpunkt. Aber deren zögerliches Verhalten angesichts der im Nationalsozialismus immer deutlicher werdenden Gefahr für alle Juden führte dazu, dass ihnen der Weg zu einer Flucht ins Ausland versperrt war. Die Eltern Weidenreich hingegen hatten die Zeichen der Zeit jedoch richtig gedeutet; insbesondere Peter Wydens Mutter hatte früh gedrängt, alles zu versuchen, um rechtzeitig Deutschland zu verlassen. Das gelang 1937, wofür Wyden seiner Mutter sein Leben lang dankbar war und dies auch in seiner Widmung formulierte:
"Für Helen. Wenn sie Hitler nicht richtig eingeschätzt hätte, wäre ich jetzt nicht hier."

Kurz nach Kriegsende wurde Wyden als US-Soldat in Berlin stationiert und erfuhr dort von den drei Prozessen gegen Stella Goldschlag. Das, was er hörte, schien nicht von seinem Bild von Stella zu passen, das er aus der gemeinsamen Schulzeit hatte. Sein Interesse war geweckt und er machte sich auf eine Spurensuche.

Lesen?

Man merkt dem Buch Wydens Bemühungen an, Stellas Verhalten möglichst objektiv zu beurteilen und sie nicht anzuprangern. Es wird sehr deutlich, dass es ihm um die Beantwortung der Frage ging, wie weit jeder gehen würde, um sich oder die Menschen, die einem am Herzen liegen, zu retten. Wyden beschäftigte sich jedoch auch mit den Opfern von Stellas Verrat und befragte Überlebende. Dabei erlebte er allerdings nicht nur Verbitterung und Vorwürfe, sondern auch Verständnis. Manche nahmen Stella sogar in Schutz und berichteten von Situationen, in denen die junge Frau Menschen nicht an die Gestapo ausgeliefert hatte und dafür ein persönliches Risiko eingegangen war.

Peter Wyden arbeitet zwei Aspekte deutlich heraus: Stellas Tun ist ethisch-moralisch nicht eindeutig schwarz oder weiß gewesen, und der Nationalsozialismus war kein abstraktes Gebilde, das über die Menschen gekommen ist, sondern wurde von Menschen, die in diesem System "funktionierten", am Leben erhalten. Jedes noch so kleine Rädchen trug dazu bei, die gesamte "Maschine" am Laufen zu halten. Wer Stella Goldschlag - Eine wahre Geschichte gelesen hat, dem wird klar, dass die dunkle Zeit des Nationalsozialismus' und seiner Folgen nie vergessen werden darf.

Stella Goldschlag - Eine wahre Geschichte ist in der mir vorliegenden Ausführung 2021 neu im Steidl Verlag Göttingen in der Reihe 'Steidl Pocket' herausgegeben worden und kostet 16,80 Euro.
Das Buch enthält ein Vorwort von Christoph Heubner (Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees), 41 Schwarz-Weiß-Fotos, ein umfangreiches Personenverzeichnis sowie ein Register.

Peter Wyden verstarb 1998 in den USA.
Stella Goldschlag beging 1994 Suizid, nachdem sie im Alter viele Jahre in völliger Zurückgezogenheit verbracht hatte. Wyden hatte sie an ihrem Wohnort in Deutschland drei Mal besucht, um ihre Version der Geschichte zu erfahren. Er traf auf eine Frau, die vor allem damit beschäftigt war, sich selbst leid zu tun.





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