Ein Vogel auf Abwegen
Der Roman Der Distelfink der Amerikanerin Donna Tartt beginnt fast am Ende der Erzählung: Theo Decker, ein 27-jähriger Amerikaner, befindet sich seit einer Woche in einem Amsterdamer Hotelzimmer. Er ist krank und sieht in einem Fiebertraum im Spiegel seine Mutter, die plötzlich hinter ihm auftaucht. Doch kurz, bevor sie etwas sagen kann, endet der Traum abrupt. Theo wird bewusst, dass sein Leben einen besseren Verlauf genommen hätte, wenn es diesen Tag vor 14 Jahren nicht gegeben hätte.
Der 13-jährige Theo Decker lebt allein mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung in New York. Sein alkoholkranker und meistens übellauniger Vater hat die kleine Familie bereits vor einem Jahr sang- und klanglos verlassen und zahlt keinen Unterhalt. Dass das Geld seitdem knapp ist, ist allerdings im Vergleich dazu das kleinere Übel.
Theo und seine Mutter Audrey hatten schon immer eine enge Bindung, die seit dem Verschwinden des Vaters noch etwas intensiver geworden ist. Doch dann kommt der Tag, der Theos bisheriges Leben aus den Fugen und seine Welt zum Einsturz bringen soll: Er besucht mit seiner Mutter das Metropolitan Museum of Art, in dem gerade eine Ausstellung gezeigt wird: Nördliche Meisterwerke des goldenen Zeitalters. Audrey hatte vor Jahren Kunstgeschichte an der New York University studiert, bevor sie Theos Vater kennenlernte und nach der Hochzeit das Studium aufgab. Ihr Faible für Kunst hatte sie jedoch nie losgelassen und sie freut sich sehr, als sie in der Ausstellung ein Bild entdeckt, das sie seit ihrer Kindheit nur aus einem Kunstbildband kannte, von dem sie jedoch seit damals fasziniert ist: Der Distelfink des niederländischen Künstlers Carel Fabritius, das 1654 gemalt wurde.
Die Wege trennen sich...
Theo und seine Mutter haben mittags einen Termin, sodass die beiden ihren Museumsrundgang abkürzen müssen. Doch Audrey möchte sich auf die Schnelle noch ein weiteres Gemälde ansehen, das in einem benachbarten Ausstellungsraum hängt. Sie verabreden, dass sie sich im Museumsshop treffen. Wenige Augenblicke später wird der Raum von einer so gewaltigen Explosion erschüttert, dass Theo zwischen herumwirbelnden Trümmerteilen zu Boden geworfen wird und das Bewusstsein verliert. Erst als er nach einer Weile wieder zu sich kommt, erkennt er, was wirklich passiert ist: Ein Bombenanschlag hat Teile des Museums zum Einsturz gebracht. Um ihn herum liegen Tote, von seiner Mutter ist weit und breit nichts zu sehen. Auf der Suche nach einem Ausgang trifft er auf einen schwer verletzten alten Mann, der um sein Leben ringt. In seinen letzten Minuten weist er Theo eindringlich an, ein staubiges rechteckiges Brett, das ganz in der Nähe zwischen Trümmern liegt, aufzuheben und auf jeden Fall mitzunehmen. Als Theo sich das Brett genauer ansieht, erkennt er, dass es sich um den Distelfinken, das Lieblingsbild seiner Mutter, handelt. Ohne länger darüber nachzudenken, entscheidet er, das Bild an sich zu nehmen. Doch kurz bevor Theo die Suche nach dem Ausgang fortsetzt, gibt ihm der sterbende Mann einen schweren Goldring. Einige seiner letzten Worte sind "Hobart and Blackwell" und "Läute die grüne Glocke."
Theo schafft es, einen Weg aus dem zerstörten Museum zu finden und klammert sich an die Hoffnung, seine Mutter zu Hause anzutreffen. Doch die Wohnung ist leer. Erst etliche Stunden später stehen zwei Sozialarbeiter vor der Wohnungstür. In diesem Moment wird Theo klar, dass er seine Mutter nie wiedersehen wird. Angesichts dessen, dass die Sozialarbeiter überlegen, Theo entweder in staatliche Fürsorge, zu einer Pflegefamilie oder zu seinen Großeltern zu geben, wird er von Panik erfasst: Jeder dieser Vorschläge ist schlimmer als der andere; seine Großeltern hatten sich noch nie für ihn interessiert und waren an Lieblosigkeit kaum zu übertreffen. In seiner Not nennt er den Namen der Familie seines Freundes Andy Barbour, und tatsächlich wird er dort aufgenommen. Der Distelfink bleibt zunächst in der alten Wohnung.
Trautes Heim, Glück allein?
Die Familie Barbour lässt ihn bei sich wohnen, aber die Atmosphäre dort ist sehr kühl und sachlich. Sein Aufenthalt wird akzeptiert, finanziell ist er jedoch kein Problem: Mr. Barbour arbeitet an der Wall Street, man leistet sich Personal und einen angenehmen Lebensstil. Ihre Wohnung liegt an der bekannten und teuren Park Avenue.
Theo hat den Ring des alten Mannes immer bei sich, aber es dauert eine Weile, bis er sich entschließen kann, die Adresse von Hobart and Blackwell im Telefonbuch nachzuschlagen und hinzufahren. Dort trifft er auf Mr. Hobart ("Hobie"), den guten Freund und Geschäftspartner des toten Mannes aus dem Museum. Die beiden Männer betreiben seit vielen Jahren ein in Sammlerkreisen angesehenes Antiquitätengeschäft, in dem Hobie den Part des Restaurators innehat. Hobie wird zu einem Anker und Ruhepunkt in Theos Leben, das immer mehr aus den Fugen gerät. Der Heranwachsende trägt schwer am Tod seiner Mutter und gibt sich die Schuld daran. Seit der Explosion ringt er außerdem mit einer posttraumatischen Belastungsstörung: Er erträgt Menschenmengen nur sehr schlecht, und plötzliche Geräusche oder Bewegungen in seiner Nähe bringen ihn aus der Fassung.
Als sein Leben bei den Barbours sich etwas normalisiert hat, taucht unvermittelt sein Vater mit seiner Freundin Xandra auf und holt Theo zu sich in die Einöde eines Trabantenvororts von Las Vegas. Doch die Hoffnung, jetzt wieder ein richtiges Zuhause in einer normalen Familie zu haben, wird schon kurz nach der Ankunft beendet: Der Vater hat seinen Suchtschwerpunkt vom Alkohol auf Tabletten verlagert und häuft bei Wetten und Glücksspiel Schulden an, während Xandra keinen Hehl daraus macht, dass ihr Theo lästig ist. Theo lebt in den Tag hinein und spürt deutlich, nicht geliebt zu werden.
14 Jahre Leben auf mehr als 1.000 Seiten
Wer angesichts der Seitenzahl abgeschreckt ist, diesen Roman zu lesen, verpasst ein sehr flüssig und lebendig geschriebenes Buch, das seine Leser bis zum letzten Punkt auf Seite 1.022 nicht mehr loslässt. Donna Tartt beschreibt das psychische Loch, in das der junge Theo nach dem Tod seiner Mutter, der wichtigsten Person in seinem Leben, fällt, so authentisch, dass man es mit dem Jungen mitfühlt. Über viele Jahre hinweg kann er nicht an bestimmte Dinge denken oder sich an Orten aufhalten, an denen er mit ihr gewesen ist, ohne dass in seinem Kopf ein Film mit Szenen aus dem gemeinsamen Leben abläuft. Wie sehr sich Theo wünscht, dass alles so bleiben möge, wie er es gekannt hat, wird besonders deutlich, als er zum Mietshaus, in dem er jahrelang mit seiner Mutter gelebt hat, zurückkehrt, um mit den ihm vertrauten Türstehern zu sprechen. Als er dort ankommt, ist er fassungslos: Das Haus ist eingerüstet und wird gerade entkernt, das gesamte Hauspersonal wurde entlassen. Ein Fremder erzählt ihm, ein Investor habe das Gebäude gekauft und wolle daraus moderne, teure Wohnungen machen.
Das Leben entgleitet dem Jugendlichen Theo mehr und mehr. Über einen Freund gerät er an Drogen und Alkohol, und erst ein weiterer Schicksalsschlag, der für ihn mehr ein Befreiungsschlag ist, öffnet ihm die Tür für ein einigermaßen normales Leben. Das Gemälde, dessen Rückgabe er sich mehrmals vorgenommen und immer wieder aufgeschoben hat, entwickelt sich zu einem Fluch, obwohl er es gut versteckt hält und irgendwann nicht mehr wagt, es auszupacken und anzusehen.
Donna Tartt hat 2014 für The Goldfinch den Pulitzer Preis bekommen - meiner Ansicht nach absolut verdient.
Die deutsche Übersetzung ist 2014 im Goldmann Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24,99 €, als Taschenbuch 12,99 €, als mp3-Hörbuch 14,99 € sowie als Kindle-Edition 9,99 €.
Vielen Dank!
Das Buch Der Distelfink wurde mir als Rezensionsexemplar vom Inhaber der Hemminger Buchhandlung, Herrn Stefan Koß, zur Verfügung gestellt, wofür ich mich ganz herzlich bedanke. Herr Koß bietet ein breites Spektrum unterschiedlichster Bücher an und besorgt nicht im Laden vorhandene Exemplare innerhalb eines Werktages.Die Kontaktdaten und Öffnungszeiten gibt es hier: Hemminger Buchhandlung
Hallo Ina,
AntwortenLöschenein wirklich tolles Buch und eine gelungene Rezension. Kann den Titel auch wärmstens weiterempfehlen. Kritiker haben ihr ja einen veralteten Schreibstil vorgeworfen und behauptet, "so wie Dickens kann man heute nicht mehr schreiben". Aber in einem Atemzug mit Dickens genannt zu werden ist für mich eher Auszeichnung als Kritik.
Liebe Grüße
Thomas
Hallo Thomas,
Löschengibt es nicht immer Kritiker, die etwas zu meckern haben? Das kann ich gerade bei diesem Buch nicht ernst nehmen. Von Donna Tartt werde ich sicher auch die weiteren Bücher lesen.
Liebe Grüße
Ina