Starker Roman mit einem Blick auf die untergehende UdSSR
Die Reise geht heute in die untergehende UdSSR. Die Autorin
Anna Galkina beschreibt in ihrem Roman Das kalte Licht der fernen Sterne das
Leben in einer Kleinstadt in der Nähe von Moskau in den 1980-er Jahren. Sie tut
dies mit einer ungewöhnlichen Klarheit, die perfekt zur Atmosphäre ihres Buches
passt.
Was ist Heimat?
Anna Galkina beschreibt das Leben des jungen Mädchens Nastja
auf eine Weise, die nahelegt, dass sie sich selbst meint. Die Autorin ist vor 20 Jahren
aus ihrer Geburtsstadt Moskau nach Deutschland gekommen und lässt ihre
Protagonistin in der Ich-Form erzählen. Die ersten Seiten sind der Beschreibung von Nastjas direktem Umfeld gewidmet. Es sind Erinnerungen, denn nach 20 Jahren in
der Ferne kehrt sie an den Ort ihrer Kindheit zurück. Vieles erkennt sie
wieder: die alte Brotfabrik, den verwitterten Zaun, der das Elternhaus von der
Straße abgrenzte, die Eisenbahnlinie. Aber schon bald nach ihrer Ankunft spürt
sie, dass sie nicht mehr dazugehört: In der Kirche wird ihr nach einer kurzen
Musterung eine Opferkerze für das Zehnfache des üblichen Preises verkauft.
Doch mit dem Blick
zum Altar kehrt die Vergangenheit so deutlich zurück, als sei die junge Frau
nie weg gewesen. Sie beschreibt das kleine Städtchen, weiß sogar noch die Preise
für einzelne Lebensmittel und sieht das alte brüchige Holzhaus, in dem sie
aufgewachsen ist, genau vor sich.
Das Leben in der Sowjetunion
Jeder Jahreszeit ordnet Anna Galkina deren einprägsamste
Merkmale zu. Der Winter steht für Kälte und Schnee, für den Schlitten, mit dem gerodelt und alles transportiert wird, für gefrorene Wäsche an der Leine, für
ein eiskaltes Haus und einen langsam wachsenden Kotturm im Plumpsklo, der bei
Bedarf von der Großmutter mit dem Spaten zerteilt wird.
Der Frühling steht für Musik in der Natur, Tauwasser auf den
Straßen und das Anzapfen von Birken zur Gewinnung von Birkensaft. Im Frühling
werden die Zäune neu gestrichen und die Straße gefegt, damit alles für die
Parade am 1. Mai frisch hergerichtet aussieht.
Der Sommer ist nicht nur Hitze und Staub, sondern eine noch
unangenehmere Situation auf dem Plumpsklo. Mit „Das Klohäuschen lebt“ hat die
Autorin die Lage auf dem stillen Örtchen treffend zusammengefasst. Doch der
Sommer steht auch für so starke Regenfälle, dass das Regenwasser durch das Dach
rinnt und in unzähligen Schüsseln aufgefangen werden muss.
Am 1. September beginnt die Schule wieder und läutet den
Herbst ein. Dauerregen weicht die Straßen auf und macht sie zu kleinen Seen.
Anna Galkina beschreibt diese Umgebung sachlich und völlig
emotionslos. In dieser Darstellung wird weder etwas beschönigt noch kritisiert.
Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen
Nastja wächst in einer Umgebung auf, die aus unserer Sicht brutal
und unbarmherzig ist. Im Alter von fünf Jahren kommt sie in den Kindergarten.
Doch dort geht es eher weniger liebevoll zu, und die unbeschwerte Kindheit ist
mit dem ersten Tag in dieser Einrichtung zu Ende. Der Musikunterricht besteht
aus dem Absingen von kommunistischen Liedern, in denen der Partei für praktisch
alles gedankt wird, was das Leben ausmacht. Inklusive des Sonnenscheins. Wenn
ein Kind den Mittagsschlaf stört, dann wird ihm die Unterhose ausgezogen, sodass es spätestens am Ende der Mittagsstunde zum Gespött der übrigen Kinder wird.
Doch das überzeugende Argument für Nastja Mutter, ihre Tochter in den
Kindergarten zu geben, ist die Verpflegung: Zu Hause hat das Geld oft nicht für
Lebensmittel gereicht. Da spielen andere Dinge, wie beispielsweise das von der
Erzieherin unterstützte Ritual des Zusammenschlagens eines Kindes durch die
anderen Kinder, wenn dieses Kind Schwierigkeiten macht, nur eine kleine Rolle.
Die Schule folgt denselben pädagogischen Prinzipien wie der
Kindergarten: Drohungen, Häme und Gewalt durch die Lehrerinnen sind an der
Tagesordnung. Doch dann durchbricht plötzlich ein Gerücht die Eintönigkeit: Thomas
Anders, die eine Hälfte des Duos „Modern Talking“, kommt für seine Show nach
Moskau. Schon bald stellt sich heraus, dass praktisch alle Karten an die
Nachkommen der Kriegsveteranen vergeben worden sind. Nur durch die Bestechung
eines Soldaten schaffen es Nastja und ihre Freundinnen, das Konzert
mitzuerleben.
Nastja Leben nimmt mehrere Wendungen. Ihre Mutter lernt über
eine Partnervermittlung ihren späteren Mann Robert aus Riga kennen, und
Nastja verliebt sich in einen russischen Soldaten. Doch beide Beziehungen
verlaufen problematisch, sodass sich sowohl Mutter als auch Tochter entscheiden
müssen, wo und wie sie ihr Leben fortführen.
Ein unspektakulärer Umbruch
Anna Galkina hat mit Das kalte Licht der fernen Sterne einen
Roman vorgelegt, der seine Leser trotz seiner Nüchternheit in seinen Bann
zieht. Auch die ekelhaftesten und brutalsten Szenen werden
niemals wertend beschrieben. Da werden Menschen geschlagen, gefoltert und sogar
auf eine besonders üble Weise ermordet; da werden junge Mädchen auf der Suche
nach der Unterbrechung der Trostlosigkeit zu Prostituierten; da wird über
Vergewaltigungen geschrieben, als seien sie eine Zwangsläufigkeit im Leben von
jungen Frauen. Aber es ist ein bisschen wie der heimliche Blick durch ein
Schlüsselloch: Man möchte eigentlich gar nicht mehr länger hinsehen, bringt es
aber nicht über sich, den Kopf wegzudrehen. Zu groß ist die Faszination, und zu
groß ist auch die Neugier, wie es den einzelnen Figuren weiter ergeht.
Das kalte Licht der fernen Sterne lässt seine Leser in die
Sowjetunion vor 30 Jahren eintauchen und ermöglicht einen Eindruck davon, wie
ganz einfache Bürger diese Zeit erlebt haben. Durch ihre schnörkellose Sprache
schafft Anna Galkina eine authentische Atmosphäre, die ihre Leser bis zur
letzten Seite nicht mehr loslässt.
Das kalte Licht der fernen Sterne wurde mir von Indie-Publishing zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke. Es ist in der Frankfurter Verlagsanstalt GmbH erschienen und kostet als gebundenes Buch 19,90 Euro sowie als epub- oder Kindle-Edition 14,99 Euro.
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