Der österreichische Blick auf Brüssel hat die Nase vorn
Seit gestern steht es fest: Der diesjährige Preisträger des Deutschen Buchpreises heißt Robert Menasse, der mit seinem Roman Die Hauptstadt die aus Literaturkritikern und Buchhändlern bestehende Jury überzeugt hat. Die Handlung ist nicht in Wien, der Hauptstadt von Menasses Heimatland Österreich, sondern in Brüssel angesiedelt. Es geht um die EU: Sie steht kurz vor ihrem 60. Jubiläum, das natürlich angemessen begangen werden soll. Die Veranstaltung soll dazu dienen, die Europäische Union in ein günstiges Licht zu rücken, und Fenia Xenopoulou, eine ranghohe zypriotische EU-Beamtin der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, ist auf der Suche nach guten Ideen. Das ist ein Anlass, die Ellenbogen auszufahren und sich zu profilieren. Eine sehr ungewöhnliche und gewöhnungsbedürftige Idee wird letztlich ausgewählt: David de Vriend, der die letzte Lebensphase in einem Brüsseler Seniorenheim verbringt, soll dem Kampagnenmotto, dass die europäische Einheit eine Lehre aus der Geschichte ist, ein Gesicht geben. Er ist als Junge von einem Zug gesprungen, der ihn und seine Eltern in ein Konzentrationslager bringen sollte. Fenia Xenopoulou will nun den Festakt in Auschwitz abhalten - mit de Vriend, der sein ganzes Leben damit beschäftigt war, das Erlebte von damals zu vergessen. Ein Mordfall, in dem aus politischen Gründen nicht ermittelt werden soll, spielt in Die Hauptstadt ebenso eine Rolle wie ein Wirtschaftswissenschaftler, dem seine Utopie, in Auschwitz eine neue europäische Hauptstadt zu errichten, schon bald gefährlich wird.
Geteilte Meinung über Preisvergabe
Die Entscheidung der Jury hat nicht nur Zustimmung hervorgerufen. Es wurden einige Stimmen von Literaturexperten laut, die Die Hauptstadt nicht für das beste Buch des Jahres halten. Sie merken an, dass sich seit der ersten Vergabe des Preises 2005 Tendenzen beobachten lassen, die zumindest nachdenklich machen. Es wird da beispielsweise kritisiert, dass unter den Büchern der Shortlist der Suhrkamp-Verlag mit drei Titeln sehr oft vertreten war.
Auch eine andere Auffälligkeit wird thematisiert: Alle Buchpreise sind seit der ersten Vergabe 2005 an Autoren gegangen, deren Bücher im Herbst, also kurz vor der Frankfurter Buchmesse, erschienen sind. Kann es wirklich sein, dass im Frühling nie Titel herausgebracht werden, die preiswürdig sein könnten? Die Jury hat denn auch hervorgehoben, dass es allein um die Literatur gehe und sonst nichts.
Dass es in Die Hauptstadt um die Darstellung einer korrupten und intriganten EU-Bürokratie geht, vewundert umso mehr, wenn man Menasses vor fünf Jahren erschienenen Essay Der Europäische Landbote zur Hand nimmt, in dem der Autor von seinen Eindrücken und Erfahrungen anlässlich seiner Reise nach Brüssel erzählt, die durchweg positiv ausfallen. Sein Fazit: Es ist nicht die EU selbst, deren Regularien und Vorgaben Probleme machen, sondern es sind die Mitgliedsstaaten, die mit ihrem eigennützigen Leuchtturmdenken die Idee des gemeinsamen Europas hintertreiben. Die Botschaft des jetzt ausgezeichneten Romans ist eine andere. Warum?
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