Samstag, 6. Juni 2020

# 243 - Über das Unfassbare sprechen, solange es noch geht

"Ich habe noch nie jemanden so sterben gesehen." Das sagte der Henker Johann Reichhart mit Bewunderung über Hans und Sophie Scholl. Reichhart hat während der NS-Zeit 3.165 Menschen hingerichtet, für ihn war das Töten nichts anderes als ein Broterwerb. Sein Satz ist einer von vielen sehr eindringlichen Sätzen in dem Buch Jahrhundertzeugen - Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler des Journalisten Tim Pröse.

Pröse hat sich den Schicksalen von 18 Menschen genähert, die während der Zeit des deutschen Nationalsozialismus' Widerstand geleistet, Verfolgung erlitten und überlebt oder Verfolgten das Leben gerettet haben. Der Autor hat mit ihnen oder, sofern sie bereits verstorben waren, ihren nahen Angehörigen gesprochen, in manchen Fällen hat es sogar mehrere Treffen gegeben. Einige dieser Menschen sind der Öffentlichkeit bekannt, andere bekommen mit ihren Schicksalen erst durch dieses Buch Aufmerksamkeit.

Das Foto auf dem Schutzumschlag zeigt den Essener Industriellen Berthold Beitz. Als 26-jähriger Mann war Beitz Direktor der Karpaten-Öl AG in Boryslaw; der Ort befand sich im Zweiten Weltkrieg im deutsch besetzten Generalgouvernement Polen und gehört heute zur Ukraine. Die Firma galt als 'kriegswichtiger Betrieb'. Diesen Umstand nutzte Beitz, um Juden direkt aus den Waggons, die bereits am Bahnhof von Boryslaw auf ihre Abfahrt warteten und ihre 'Fahrgäste' in die Konzentrationslager bringen sollten, herauszuholen. Er behauptete, ihre Arbeit bei der Karpaten-Öl AG sei ebenfalls kriegswichtig und rettete damit einer großen Zahl von Menschen das Leben. Pröse widmet sich nicht nur dieser riskanten Rettung, sondern besuchte auch den wahrscheinlich letzten von Beitz Geretteten, der zu dem Zeitpunkt, als das Buch entstand, noch am Leben war: Jurek Rotenberg. Rotenberg war 14, als Beitz ihn als 'Arbeitsjude' im Unternehmen unterbrachte und vor der Gaskammer bewahrte. Anlässlich des 99. Geburtstages von Beitz trafen sich die beiden Männer nach 70 Jahren zum ersten Mal wieder - und Pröse war dabei. Er schildert sehr empathisch diese Begegnung, beschreibt die Umstände und die ersten Reaktionen. Es ist, als sei man dabei gewesen.

Nicht weniger berührend und tief schockierend sind die weiteren Berichte. Da ist zum Beispiel der von Franz J. Müller. Er gehörte zu den letzten Überlebenden der Weißen Rose. Zusammen mit den Geschwistern Hirzel, die ebenfalls wegen ihrer Aktivitäten in der Widerstandsgruppe angeklagt waren, saß er 1943 dem berüchtigten Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler gegenüber. Im Gegensatz zu den Geschwistern Scholl, die in München hingerichtet wurden, erhielten die Drei nur geringe Strafen. Vor allem die wegen ihrer blonden Haare und blauen Augen als 'germanisches Mädchen' (O-Ton Freisler) bezeichnete Susanne Hirzel hatte es Freisler mit ihrem Aussehen angetan. Davon profitierten vermutlich auch die beiden mitangeklagten jungen Männer, die nur zu Haftstrafen verurteilt wurden und mit dem Leben davonkamen.

Eine andere Lebensgeschichte ist die des früheren Soldaten Kurt K. Keller. Am 6. Juni 1944 war er am sog. "Omaha Beach", dem Ort in der Normandie, an dem der D-Day stattgefunden hat. Er erzählt von seinem Erlebnis, das er sein Leben lang nicht losgeworden ist und das ihn auch nach mehr als 70 Jahren nachts hochschrecken lässt: dem Moment, als er einen auf ihn zustürmenden amerikanischen GI erschossen hat. Der tödlich getroffene Soldat sank in den letzten Sekunden seines Lebens in den Sand, legte Helm und Gewehr ab und betete. Dieser Anblick hatte Kellers Haltung zu Hitler auf einen Schlag verändert. Kurz danach desertierte er.

Jede einzelne Lebensgeschichte berührt. Manche sind so erschütternd, dass man nicht sofort weiterlesen kann. Alle Menschen, die Pröse noch selbst schildern konnten, wie ihr Leben während der NS-Disktatur verlaufen ist, berichteten von Albträumen, die sie den Rest ihres Lebens verfolgt haben. Viele haben ihre Erfahrungen weitergegeben, indem sie beispielsweise vor Schulklassen gesprochen haben. Die Zahl der Menschen, die das noch können, wird immer kleiner. In absehbarer Zeit wird es niemanden mehr geben, der aus erster Hand und damit authentisch berichten kann. Umso wichtiger sind Bücher wie dieses, die uns das Grauen des Nationalsozialismus' zeigen und die dazu beitragen, dass das, was damals passiert ist, nicht vergessen wird.

Jahrhundertzeugen - Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler ist im Heyne Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 19,99 Euro sowie als E-Book 15,99 Euro.

Nachtrag: Die Zeit berichtete 1966 über den Prozess gegen den SS-Obersturmführer Fritz Hildebrand, in dessen Verlauf sich Berthold Beitz und seine frühere Sekretärin Hilde Olsen nach 22 Jahren zum ersten Mal wiedersahen. Auch Olsen wurde von Beitz vor dem sicheren Tod gerettet.

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