Freitag, 29. April 2022

# 345 - Der Ausbruch aus einem Glaubensgefängnis

365 Verbote und 248 Gebote enthält die Thora. Die Sekte der Satmarer Juden hält sich besonders streng daran: Welcher Fuß darf beim morgendlichen Aufstehen zuerst vom Bett auf den Boden gesetzt werden? In  welcher Reihenfolge werden die Schuhe zugebunden und geschnürt? Was darf am Schabbat auf keinen Fall gemacht werden? In praktisch allem, was den Alltag ausmacht, befindet sich die Gemeinschaft auf dem Stand des 18. Jahrhunderts. Die engen Vorgaben, die für Außenstehende absurd wirken, haben einen Grund, den der Rabbi Akiva Weingarten in seinem Buch Ultraorthodox - mein Weg erklärt.

Weingarten wurde 1984 als ältestes von zehn Kindern in eine ultraorthodoxe chassidische Familie der Satmarer hineingeboren, die sich völlig der Hingabe an die strengen Glaubensgrundsätze verschrieben hat. Die Gemeinschaft lebt zwar in Lakewood (New Jersey) inmitten anderer Menschen, schottet sich aber durch ihre Regeln und nicht zuletzt ihre eigene Sprache von der Außenwelt ab: Das Jiddisch wirkt wie eine Mauer, die kein Goyim (Nicht-Jude) durchdringen kann.

Je älter Akiva Weingarten wurde, desto mehr Pflichten und Regeln musste er erfüllen. Wie sehr ihn das belastete, wird an seiner Wortwahl deutlich: Mehrmals beschreibt er in seinem Buch die Vielzahl an Mizwot und Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, als "Gebirge". Das Gefühl, religiös vergewaltigt zu werden, wurde übermächtig; Weingarten spürte, dass er seinen Glauben verloren hatte und empfand Trauer und Einsamkeit. Seine unglückliche arrangierte Ehe verstärkte die Trostlosigkeit. Er beschloss, die Gemeinschaft zu verlassen und in Deutschland neu anzufangen.

Lesen?

Im Oktober 2020 habe ich hier die beiden Bücher Unorthodox und Überbitten von Deborah Feldman vorgestellt. Auch Feldman wuchs in einer Satmarer-Gemeinschaft in New York auf, heiratete, bekam ein Kind - und ertrug die Enge dort nicht mehr, die für Frauen noch ausgeprägter ist als für Männer. Wie in der Gemeinschaft üblich, hatten weder Feldman noch Weingarten einen anerkannten Schulabschluss. Beide betraten bei ihrer Abkehr von der Sekte eine völlig andere Welt, die nach Regeln funktionierte, die ihnen fremd waren - und haben jeweils ihren persönlichen Weg gefunden. Weingarten ist heute Rabbiner in Dresden und Basel. 

Nach dem Lesen von Feldmans Büchern zu erfahren, wie es mit Weingarten einem Mann in einer sehr ähnlichen Situation ergangen ist, ist hochinteressant. Weingarten schreibt offen und schnörkellos; die Nöte, in denen er sich befunden hat, sind unmittelbar nachzuempfinden. Ultraorthodox - mein Weg ist ein Buch, das ich in einem "Rutsch" durchgelesen habe.

Ultraorthodox - mein Weg ist im März 2022 im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro.

5 Kommentare:

  1. Im ersten Moment war ich auch erstaunt, dass die männlichen orthodoxen Juden unter diesem Zwang sehr leiden. Aber andererseits: Natürlich leiden sie.
    Orthodoxe Richtungen im Judentum sind genauso fragwürdig, wie andere extreme Glaubensrichtungen. Und genauso falsch.
    LG
    Sabiene

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    1. Alles, was man mit "extrem" etikettieren kann, ist ziemlicher Mist. Wenn ich die Bücher von Weingarten und Feldman miteinander vergleiche, habe ich zwar den Eindruck, dass das Leben der orthodoxen Frauen noch beengter ist als das der Männer; allerdings ist hier "weniger schlimm" nicht mit "gut" gleichzusetzen.
      LG
      Ina

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  2. Es geht hier um bestimmte "ULTRA-orthodoxe" Juden, nicht um DAS *orthodoxe* Judentum. Orthodoxes Judentum ist ganz einfach traditionelles, normatives Judentum und grundsätzlich keineswegs "extrem".

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    1. Liebe/r anonyme/r Leser/in, die Rezension enthält vier Mal den Begriff "ultraorthodox". Das sollte zur Klarstellung genügen.

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    2. Ich weiß - ich bezog mich auf den leider klischeehaften Kommentar von "Sabiene".

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