Mit Stay away from Gretchen ist Susanne Abel ein Roman gelungen, an dem man nur den Titel kritisieren kann. Der hätte mich fast davon abgehalten, das Buch zu lesen, weil ich dahinter "Kitsch" vermutet hatte.
Greta Schönaich - eben jenes Gretchen - wächst in Ostpreußen auf. Als Achtjährige erlebt sie den Kriegsbeginn sowie die Euphorie und die Siegesgewissheit, die die meisten Erwachsenen um sie herum haben. Mit ihrer Schwester teilt sie die Verehrung für Adolf Hitler, den die beiden Mädchen wie einen Popstar anhimmeln. Nur ihr Opa, der als Soldat im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hat, kann der Situation nichts Gutes abgewinnen.
Gretas Vater Otto, ein glühender Nazi, wird 1940 eingezogen; der Rest der Familie, der außer dem Mädchen noch aus den Großeltern, der Mutter und der älteren Schwester Fine besteht, flieht im Januar 1945 nach Westen. Auf der Flucht wird die Familie auseinandergerissen und trifft sich erst im Mai 1946 bei Verwandten in Heidelberg wieder. Der Vater findet seine Familie nach langer Gefangenschaft in Russland erst 1952 wieder.
Die Stadt wird ihre neue Heimat. Gretas Lebensweg nimmt eine drastische Wendung, als sie in Heidelberg einen dort stationierten amerikanischen Soldaten kennenlernt, in den sie sich verliebt. Dass er nach der nationalsozialistischen Rassenlehre ein Untermensch ist, ist ihr gleichgültig. Die Folgen dieser Liebe sollen ihr ganzes weiteres Leben beeinflussen.
2015 - im Hier und Jetzt
Susanne Abel belässt es nicht dabei, die Geschichte der Schönaichs zu erzählen, sondern springt immer wieder rund siebzig Jahre in die Zukunft. Hier steht zunächst der prominente Kölner TV-Nachrichtenmoderator Thomas "Tom" Monderath im Mittelpunkt. Er ist Single, hat immer mal wieder One-Night-Stands und lebt ansonsten im Takt der Nachrichtenlage. Seine 84-jährige Mutter Greta ist verwitwet und lebt allein in der Wohnung, in der Tom aufgewachsen ist. Die Seniorin sieht ihren Sohn vor allem dann, wenn sie abends den Fernseher anschaltet. Der Kontakt zu ihm ist ziemlich spärlich.
Lesen?
Stay away from Gretchen erzählt eine von tragischen und traumatischen Erlebnissen geprägte Lebensgeschichte. Susanne Abel beschreibt die Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns und die gesellschaftliche Ausgrenzung der deutschen Frauen, die von afroamerikanischen US-Soldaten schwanger wurden. Ihre Kinder wurden als minderwertig angesehen, vielen Müttern wurden sie zwangsweise weggenommen, um dann zur Adoption freigegeben zu werden.
Doch auch innerhalb der US-Armee wurde die Rassentrennung vollzogen. Afroamerikanische GIs bekamen den Rassenhass zu spüren und wurden oft wie Fußabtreter behandelt.
Das Thema Flucht und Vertreibung wird in Abels Roman immer wieder angesprochen, wenn beispielsweise Bezüge zu der Fluchtbewegung im Jahr 2015, als zwei Millionen Menschen auf dem Land- und Seeweg in die EU flohen, hergestellt werden. Weder damals noch heute waren geflüchtete Menschen in den Orten, in denen sie Zuflucht suchten, willkommen.
Das Buch greift zudem Erkenntnisse im Zusammenhang mit Demenzerkrankungen auf. Mit fortschreitender Demenz vergessen die Menschen, worüber sie ihr Leben lang schweigen wollten. Es ist häufig so, als würde sich eine Tür öffnen, hinter der die Vergangenheit jahrzehntelang fest verschlossen gewesen war. Abel arbeitet auch Forschungsergebnisse in ihre Handlung ein, wonach Erfahrungen und Erlebnisse, die in einer Generation gemacht wurden, durch eine Art "genetisches Gedächtnis" an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden.
Fazit: Lesen? Ja!
Stay away from Gretchen ist 2021 bei der dtv Verlagsgesellschaft erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.
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