Dienstag, 9. Mai 2023

# 391 - Kindheit auf Teneriffa

Die spanische Autorin Andrea Abreu hat mit So
forsch, so furchtlos
einen Debütoman geschrieben, der nicht nur in ihrer Heimat Begeisterung auslöste, wo sie seitdem zu den besten einheimischen Schriftstellern gezählt wird.

Schauplatz ist die Heimat Abreus, die Kanareninsel Teneriffa. Die Kanaren sind für Touristen ein Versprechen des ewigen Frühlings: Milde Temperaturen locken sie an die langen Strände, wo Hotelanlagen für einen angenehmen Urlaub sorgen. Doch diese Kulisse hat nichts mit dem Leben der Einheimischen zu tun, die die Hotels allenfalls als Service- oder Putzpersonal von innen sehen.

Die Handlung beginnt am ersten Tag der Sommerferien. Von Anfang an ist klar, dass sich die nächsten Monate zäh dahinziehen würden.
Zwei zehnjährige Mädchen stehen im Mittelpunkt des Romans. Beide kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und wohnen dort, wohin es keinen Urlauber verschlägt: in einem Dorf, dessen Häuser sich an den Hängen des Vulkans Teide förmlich stapeln. Isora, die sich als frühreif gibt, nennt ihre Freundin, die hier als Ich-Erzählerin auftritt, nur Sis. Wann immer es ihre Zeit zulässt, kleben sie fast aneinander und wünschen sich das, was für die Touristen selbstverständlich ist: im Bikini im Meer zu schwimmen und im Sand zu liegen. Aber das Meer ist für sie unerreichbar fern und bleibt bis zur letzten Seite ein Wunschtraum.

Die Freundschaft der beiden ist nicht auf Augenhöhe: Sis bewundert Isora für ihre Unerschrockenheit und ihr Draufgängertum. "Und ich wollte so sein wie sie, so forsch, so furchtlos", lässt sie die Leserinnen und Leser schon auf den ersten Seiten wissen. Doch was das einfache Leben der Freundinnen prägt, ist eine Art von Maßlosigkeit, die zu den einfachen Lebensverhältnissen zu passen scheint. Isora und Sis sprechen nicht einfach nur, sie pöbeln und fluchen wie die Bierkutscher. Sie sind nicht dezent, wenn ihnen etwas unangenehm ist, sondern Isora "pulte sich die Unterhose aus der Poritze". Sie essen nicht, sondern fressen. Fäkalsprache ist für sie normal und selbstverständlich.

Aber was Sis an Isora als Zeichen von Stärke zu erkennen glaubt, ist tatsächlich das Gegenteil. "Ich will mir das Leben nehmen, ich will sterben", hört Sis ihre Freundin mehrmals sagen. Aber kurz danach rennen sie gemeinsam durchs Dorf und der Satz ist vergessen. Bis zum nächsten Mal. Und auch Isoras Bulimie fällt niemandem auf: Das Mädchen erbricht sich nach jeder Mahlzeit und findet sich zu dick. Doch in der Welt der Erwachsenen ist jeder mit etwas beschäftigt: Geld verdienen, den Haushalt machen und was eben noch so anfällt. Sis und Isora wachsen auf wie herrenlose junge Welpen. Die besondere Situation, auf die der Roman zuläuft, sieht man allerdings nicht unbedingt kommen.

Lesen? 

So forsch, so furchtlos ist kein typischer Coming-of-Age-Roman, sondern beinhaltet eine große Portion Sozial- und Gesellschaftskritik. Das von Abreu beschriebene Milieu ist ihr gut bekannt, sie ist selbst darin aufgewachsen und kann deshalb besonders authentisch von der melancholischen Atmosphäre des Bergdorfs, dem Aberglauben der alten Frauen und der Gottesfürchtigkeit schreiben. Ob die ununterbrochene Benutzung von Fäkalsprache und Derbheit etwas mit der Lebenswirklichkeit von Zehnjährigen in einem kanarischen Dorf zu tun hat, ist möglich, aber an manchen Stellen schwer vorstellbar. 

Der Roman ist 2020 unter dem Originaltitel Panza de burro erschienen, was wörtlich übersetzt "Eselsbauch" heißt. Damit sind die besonderen Wolkenformationen in höheren Lagen der Kanarischen Inseln gemeint, von denen auch in So forsch, so furchtlos immer wieder die Rede ist und die das Dorf oft wie in eine kühle und feuchte Watteschicht einwickeln. 

So forsch, so furchtlos ist 2022 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.

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