Bundestag an. Er war 19 Jahre Bundesminister in den Regierungen Kohl und Merkel in verschiedenen Ministerien, verhandelte die deutsche Wiedervereinigung, ist vier Jahre Bundestagspräsident gewesen und hatte in seiner Partei, der CDU, unterschiedliche Ämter inne. Als Schäuble 1972 im Alter von 30 Jahren zum ersten Mal als Abgeordneter im Bundestag Platz nahm, saß ganz in seiner Nähe der "Vater des Wirtschaftswunders" Ludwig Erhard.
Freundschaften und Abneigungen im Politikbetrieb
Schäuble beschreibt sein Verhältnis zu Helmut Kohl und die Art ihres Umgangs miteinander. Dabei gab er sich keinen Illusionen hin: Er bewundert die humanistische Bildung des Kanzlers und dessen schnelle Auffassungsgabe. Kohls wiederholten öffentlichen Äußerungen, Wolfgang Schäuble werde sein Nachfolger als Bundeskanzler sein, maß er keine größere Bedeutung bei. Die Rolle des ewigen Kronprinzen, ähnlich der des heutigen britischen Königs Charles III., lag ihm nicht.
Die Parteispendenaffäre hat das Verhältnis der beiden Politiker im Jahr 2000 allerdings derart erschüttert, dass es nicht mehr zu kitten war. Kohl war nicht zu bewegen, die Namen der Spender zu nennen. Dass er damit seine Partei durch einen Rechtsbruch in eine problematische Situation brachte, spielte für den Parteipatriarchen keine Rolle. Schäuble wollte sich nicht an diesem Gebaren beteiligen und trat von seinen Ämtern als Partei- und Fraktionsvorsitzender der CDU zurück. Die beiden einstmals Vertrauten haben nie mehr miteinander gesprochen.
Natürlich geht es auch um das Verhältnis zwischen Wolfgang Schäuble und Angela Merkel. Er bezeichnet sie als "Glücksfall". Schäuble hat die unter seiner Zeit als CDU-Parteichef zur Generalsekretärin gewählte spätere Bundeskanzlerin immer menschlich gemocht, aber "Merkels Führungsstil hat meine Loyalität strapaziert, auch wenn ich jedes Ansinnen, ihr in den Rücken zu fallen, kategorisch abgelehnt habe."
Loyalität: Diese Eigenschaft prägte neben Ehrgeiz, Leistungsbereitschaft, Erfolgswillen und Bodenständigkeit das Handeln des Politikers Wolfgang Schäuble. Als Schäuble 2015, in der Hochzeit der Flüchtlingskrise, vom ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber aufgefordert wurde, sich an einem Putsch gegen Merkel zu beteiligen, lehnte er das Ansinnen ab.
Sowohl Helmut Kohl als auch Angela Merkel waren 16 Jahre Bundeskanzler bzw. -kanzlerin. Schäuble deutet an, dass die langen Amtszeiten in ihren letzten Phasen bei beiden gewisse Abnutzungserscheinungen mit sich gebracht haben. Ob diese Einschätzung die Empfehlung einer Amtszeitbegrenzung beinhaltet, bleibt offen. Man wird jedoch den Eindruck nicht los, dass Schäuble einen großen Anteil an diesen langen Amtszeiten hatte.
Auffallend ist, dass Schäuble seine Kolleginnen und Kollegen in der Politik nicht nach ihrer Parteizugehörigkeit beurteilte. Über Abgeordnete der SPD oder den Grünen urteilte er oft positiv und wertschätzend.
International
Wolfgang Schäuble bezeichnete sich selbst als Atlantiker. Die politische Nähe zu den USA war ihm immer wichtig.
Als mindestens ebenso wichtig hat er die Europäische Union sowohl für Deutschland als auch Europa eingeschätzt. In seine Amtszeit als Bundesfinanzminister fiel der Beginn der Eurokrise, in der mehrere EU-Staaten vor der Pleite gerettet werden mussten. Den sich damals abspielenden Finanz- und Wirtschaftskrimi erläutert Schäuble so ausführlich wie nötig und gut nachvollziehbar. Sein Urteil über die Banken fällt dabei wenig schmeichelhaft aus: In einer Passage heißt es "man dürfe nicht zu lange Bundesfinanzminister sein, wenn man nicht als grundsätzlicher Kapitalismuskritiker enden wolle". Wenn es um seine Beobachtung geht, wie sich das Verantwortungsbewusstsein führender Manager im Laufe der Zeit verändert hat, wird Schäuble deutlich: "Das früher ehrbare Wort 'Bankier' war längst durch 'Banker' ersetzt worden. Und das entspricht in etwa dem Weg zwischen Alfred Herrhausen und Josef Ackermann." Im selben Kontext erwähnt er, dass die Bankenrettung 30 Milliarden Euro gekostet hat, davon entfielen 18 Milliarden Euro auf die Commerzbank. Schäuble ärgert sich deutlich darüber, "wie hochbezahlte Manager [...] in einer mir zunehmend widerlich erscheinenden Weise am eigenen finanziellen Vorteil interessiert waren. Ich erinnere mich daran, wie der Vorstandsvorsitzende eines Instituts [...] sehr bald die politisch durchgesetzte Deckelung der Managergehälter zu ändern versuchte. Eine halbe Million war nicht genug - der Vorstand bewilligte sich selbst bereits 2012 wieder über 1,3 Millionen. [...] Anstand ist offenbar auch in diesen Kreisen zu einer knappen Ressource geworden." Wolfgang Schäuble hat den Namen des Managers, der ihn mit seiner Gier derart in Rage gebracht hatte, in seinem Buch nicht genannt. Wer sich jedoch an die Nachrichten aus dieser Zeit erinnert, weiß, dass es sich um den damaligen Vorstandsvorsitzenden der Commerzbank Martin Blessing gehandelt hat.
Das Attentat
Am 12. Oktober 1990, als in Deutschland wegen der Wiedervereinigung eine euphorische Stimmung herrschte, wurde Wolfgang Schäuble durch die Schüsse eines psychisch kranken Attentäters so schwer verletzt, dass er eine Querschnittslähmung erlitt. Überlebt zu haben verdankte er seinem Personenschützer, der mit seinem Körper die dritte Kugel abfing. Schäubles Leben teilte sich fortan in ein "Vorher" und "Nachher": Die Verletzungen führten zu einer Querschnittslähmung und einem Leben im Rollstuhl. Das ganze Land nahm an Schäubles Schicksal Anteil.
Der Politiker schildert seine damaligen Selbstzweifel, die in die Frage mündeten, ob er gelähmt leben will. Die Behinderung brachte viele Probleme mit sich, doch Wolfgang Schäuble kommt zu dem Schluss, dass er nach dem Attentat "nicht weniger glücklich als vorher" ist. So optimistisch und positiv diese Aussage ist, so irritierend ist eine andere: "Meine Popularität über die vielen Jahre gründet auch in der sichtbaren Behinderung. Ich hätte gern darauf verzichtet, zumal ich bevorzuge, an meinen politischen Leistungen gemessen zu werden." 'Woran denn sonst?', würde man ihn hier gern fragen.
Lesen?
Erinnerungen - Mein Leben in der Politik ist so etwas wie ein subjektives Geschichtsbuch. Durch die Schnelllebigkeit unserer Zeit und die Fülle an Informationen, denen wir täglich ausgesetzt werden, geraten die Details vieler zurückliegender Ereignisse etwas in Vergessenheit. Beim Lesen des Buches gibt es einige Aha-Momente.
Mit Wolfgang Schäuble ist einer der erfahrensten Politiker Deutschlands gestorben - wenn nicht sogar der erfahrenste. Er hat viele Politikerinnen und Politiker kommen und gehen gesehen. Zum Schluss schloss sich sein persönlicher politischer Kreis dort, wo er begonnen hatte: auf den Hinterbänken des Bundestages. Er nahm den großen Altersunterschied zwischen sich und vielen heutigen Abgeordneten wahr ("Sie könnten nicht mehr nur meine Kinder, sondern längst meine Enkel sein."), monierte die immer noch zu wenigen weiblichen Abgeordneten, bedankte sich mehrfach bei seiner Frau für die Unterstützung seiner Karriere, die sie nie gewollt hatte, und riet den jungen Abgeordneten zu mehr Zuhören und weniger Selbstdarstellung.
Egal, ob man den Menschen Wolfgang Schäuble und/oder seine Politik und die der CDU gutheißt: Dieses Buch ist schon wegen seiner vielen Einblicke lesenswert. Schäubles Schreibstil ist klar und beinahe so, als würde er einem Besucher aus seinem Leben erzählen. Trotz seines großen Einflusses auf die deutsche Politik findet sich nirgends eine Stelle, an der sich der Politiker selbst überhöhen würde.
Ich wurde in den 1960-er Jahren geboren. Mir sind Personen und politische Ereignisse aus den 1970-er Jahren mindestens in groben Zusammenhängen geläufig. Für jüngere Leserinnen und Leser könnte es jedoch schwierig werden: Es fallen viele Namen und werden zahlreiche Begebenheiten genannt, die entweder nicht oder lediglich andeutungsweise erklärt werden. Einen erläuternden Anhang hält das Buch allerdings nicht bereit. Niemand sollte sich hiervon jedoch entmutigen lassen.
Erinnerungen - Mein Leben in der Politik ist im April 2024 im Verlag Klett-Cotta erschienen und kostet 38 Euro.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen