Sonntag, 8. September 2024

# 451 - Szenen einer verzweifelten Ehe

Wie kann man Furchtbares mit poetischen Worten beschreiben? Nassira Belloula gelingt dies in ihrem Roman Marias Zitronenbaum auf eine so empathische Weise, dass man beim Lesen das trostlose Leben der Protagonistin Maria als Ehefrau und Mutter und ihren Weg in Depression und Wahn buchstäblich nachfühlen kann. 

Maria ist gläubige Muslima und lebt mit ihrer Familie in Algerien. Bis sie sechzehn Jahre alt war ist sie behütet und von ihren Eltern geliebt am Mittelmeer aufgewachsen. Doch dann wird sie an einen fremden Mann verheiratet. Sie weiß nichts vom Leben und nichts von Sexualität. Das junge Mädchen, das die Natur und die Weite des Himmels liebt, muss mit ihrem Mann in die Stadt ziehen, wo es niemanden kennt. Am Tag nach der Hochzeit eröffnet er der frisch Verheirateten, was sie ab jetzt nicht mehr darf: Jede Art von Kontakt mit der Außenwelt ist ihr verboten, sogar der Blick aus dem Fenster. Das Haus darf sie nur in Begleitung ihres Mannes verlassen. Alles, was ihre Persönlichkeit ausmacht, will er auslöschen. 

Maria leidet, aber sie widerspricht nicht. Sie hält sich strikt an die Vorgaben des Korans: Wenn sie ihre Rolle als Ehefrau und Mutter erfüllt, wird sie nach ihrem Tod ins Paradies eintreten. Dort wird sie Ali wiedersehen, ihre große und längst verstorbene Liebe. Maria erträgt die Schmähungen ihres Mannes und dass sie von ihren Kindern für ihre angebliche Prüderie und Rückständigkeit ausgelacht wird.

Aber dann sieht Maria dreißig Jahre nach ihrer Heirat zufällig die Fernsehpredigt eines jungen Imams. Was sie da hört, lässt sie zusammenbrechen:
"[...]E
s hieß, dass die fromme, hingebungsvolle und gläubige Ehefrau von Allah belohnt werden wird, dass sie ins Paradies eintreten und dort ihren Mann wiederfinden wird für alle Ewigkeit. Er sagte auch, dass sie ihn ohne Eifersucht oder Zank mit Ehefrauen und Houris teilen werde, eine nach der anderen. Ein Paar wird sich nicht mehr voneinander abwenden können, und eine Stunde dauert dort so lange wie siebzig Jahre auf der Erde. So ist das Paradies konzipiert."

Der Albtraum soll also für alle Ewigkeit weitergehen? Maria beschließt zum Entsetzen ihrer Töchter ihren Mann zu verlassen. Ihre Kinder glaubten bis zu diesem Zeitpunkt daran, dass ihre Eltern eine einvernehmliche und harmonische Beziehung führen würden. Doch nun erkennen sie, wie falsch sie die Situation beurteilt und wie sehr sie ihrer Mutter Unrecht getan haben.

Lesen?

Marias Zitronenbaum schont seine Leserinnen und Leser nicht. Stellen wie "Dieser Ehemann, der unter Schmerzen geehrt wird, um die Schriften nicht zu missachten. In der Religion heißt es, dass der Körper der Frau für den Mann ein Acker zum Pflügen ist", deuten bildlich an, was da jede Nacht im Ehebett geschieht. 

Nassira Belloula stellt außerdem fest: "Seit Anbeginn der Zeit hat das patriarchalische System ein Echo in der Religion gefunden und Gott zu einem Verbündeten in dieser unerbittlichen Entfremdung gegen alles Weibliche gemacht. So lebt dieses System fort, indem es seine Kraft aus dem Penis und nicht aus dem Gehirn bezieht, und jede weibliche Stimme, die aus dem Chaos herauskommen will, unterdrückt und zerstört."

Diese deutlichen Worte der algerischen Feministin, Journalistin und Schriftstellerin Belloula bringen es auf den Punkt, wie das System der Unterdrückung der Frauen funktioniert. Die Religion (nicht nur der Islam) und ihre Schriften sind hierfür der Türöffner. Marias Zitronenbaum beschreibt ein Beispiel von vielen.

Marias Zitronenbaum ist 2021 im Verlag Donata Kinzelbach erschienen (Übersetzung: Tina Aschenbach) und kostet 20 Euro.

Nachtrag: Wenn ihr mehr über Donata Kinzelbach und ihren Verlag in Mainz erfahren möchtet, empfehle ich euch dieses 🠞 Interview, das ich vor einiger Zeit mit ihr geführt habe. Dort werden auch weitere Bücher genannt, die ich in meiner Bücherkiste bereits vorgestellt habe.

 

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