Montag, 17. Juni 2019

# 201 - (Familien-)Leben in der ČSSR und Tschechien

Heute scheint es, als wäre nichts geschehen heißt der neueste Roman des tschechischen Autors Vratislav Maňák. Im Mittelpunkt steht der junge Lehrer Ondřej Šmid, der aus Pilsen stammt und in Prag arbeitet. Anlässlich des 80. Geburtstags seines Opas reist er zu seinen Eltern. Seine Erwartungen an eine beschauliche Aus-Zeit in seiner Heimatstadt werden schnell getrübt: Er wird immer wieder an das unschöne Ende der langjährigen Beziehung mit der Zeitungsreporterin Maria, das er gerade verarbeitet, erinnert und mit einem Familiengeheimnis konfrontiert, von dem es ihm lieber gewesen wäre, es nicht zu wissen. Die Offenbarung dieses Geheimnisses weckt in ihm lange in seinem Gehirn verschüttete Kindheitserinnerungen, die erst jetzt nach so langer Zeit einen Sinn ergeben. 

Mit den Geheimnissen ist es damit jedoch noch nicht vorbei. Ondřejs Mutter Renata vermutet, dass der Vater etwas vor ihr verheimlicht. Sie soll damit Recht behalten, aber es ist etwas völlig anderes, als sie dachte. Das Leben der Familie, insbesondere der Eltern, muss nun auf neue Füße gestellt werden.

Wie Ondřej nach und nach erfährt, werden in seiner Familie noch mehr Geheimnisse gehütet, die im Laufe seines Besuchs ans Licht kommen: Opa verbirgt vor seiner Frau, dass er hinter ihrem Rücken die Ge- und Verbote des Arztes hintertreibt, der Onkel hat sein Vermögen auf ungeraden und illegalen Wegen gemacht... Die Fassade einer heil geglaubten Welt bekommt Risse.

Doch Maňák belässt es nicht bei der Geschichte der Familie Šmid. Immer wieder werden Interviews mit Zeitzeugen des sogenannten 'Pilsener Juni', einem Aufstand der Arbeiter des ŠKODA-Werkes, der am 31. Mai 1953 begann und der Auftakt weiterer Aufstände im Ostblock gegen die kommunistischen Diktaturen war, eingestreut. Anlass für die Demonstrationen und Streiks, die nicht nur in Pilsen, sondern auch in anderen Städten der Tschechoslowakei stattfanden, war eine für die Bevölkerung überraschend verkündete Währungsreform, die die Ersparnisse und sogar den gerade in tschechoslowakischen Kronen ausgezahlten Lohn auf einen Schlag praktisch wertlos machte. Diese Interviews hatte Ondřej im Rahmen seiner Diplomarbeit in seinem letzten Hochschuljahr geführt und auf Tonkassetten aufgezeichnet. Die Erinnerungen der alten Menschen und seine eigenen ergeben zusammen ein Bild der Geschichte der ČSSR und Tschechiens, so wie die Elemente des Rubik's Cube, der auf dem Buchcover zu sehen ist.


Wie war's?

 

Heute scheint es, als wäre nichts geschehen ist ein Roman für anspruchsvolle Leser. Er wechselt zwischen der Perspektive eines neutralen Beobachters, wird dann in Ich-Form aus der Sicht Ondřejs fortgesetzt und bezieht die Äußerungen der interviewten Zeitzeugen ein. Maňák schafft eine leicht melancholische Atmosphäre, die dabei hilft, sich in die einzelnen Personen hineinzuversetzen. Dies ist ein Buch, das mir gerade wegen seines sehr eigenen Stils gut gefallen hat.

Heute scheint es, als wäre nichts geschehen wurde 2017 für den Europäischen Literaturpreis nominiert.

Der Roman ist im Februar 2019 im Karl Rauch Verlag erschienen und kostet 24,-- Euro (mit Fadenheftung gebunden, Lesebändchen, strukturierter Einband).


Von Vratislav Maňák habe ich bereits das Buch Der Mann in der Uhr vorgestellt.

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