Samstag, 5. Oktober 2019

# 214 - Von Mythen, Hoffnung und dem Kampf ums Überleben

Der neueste Roman Die Glocke im See des norwegischen Autors Lars
Mytting ist Ende des 19. Jahrhunders angesiedelt: Das Dorf Butangen im Süden Norwegens erfährt 1880 eine seiner tiefgreifendsten Veränderungen in seiner jahrhundertealten Geschichte. Das ist deshalb bemerkenswert, weil der Lauf der Zeit an diesem Ort bislang praktisch spurlos vorübergegangen ist. Die Menschen waren immer abhängig vom Wetter, die meisten arm und das Schicksal eines jeden Neugeborenen stand fest, sobald es den ersten Schrei getan hatte. Außer, man entschloss sich, nach Amerika auszuwandern.

Doch 1880 tut sich etwas in Butangen. An diesem abgeschiedenen Ort, der auch heute noch mühsam zu erreichen ist, wird ein neuer Pfarrer, der junge Kai Schweigaard, eingesetzt. Ihm ist die siebenhundert Jahre alte Stabkirche, die 1170 unter der Regentschaft von König Magnus V. fertiggestellt wurde, ein Dorn im Auge: Das Bauwerk mit seinen geschnitzten Drachenköpfen und ineinander verschlungenen Schlangenkörpern sowie den hohen Spitzen symbolisiert für ihn das heidnische Denken, das immer noch in den Köpfen der Dorfbewohner vorhanden ist. Da kommt ihm eine neue Verordnung der norwegischen Regierung gerade recht: Sie sieht vor, dass eine Kirche Platz für mindestens ein Drittel der Mitglieder eines Kirchspiels haben muss. Davon ist die Butanger Stabkirche weit entfernt.

Was Schweigaard nicht weiß: Die Geschichte der Kirche ist eng mit der des Dorfes verwoben, insbesondere mit der der Familie Hekne. Vor allem die beiden sogenannten Schwesterglocken, die einst von den Vorfahren der Hekne-Familie gestiftet wurden und ungewöhnlich viel Silber enthalten, haben einen sehr speziellen Hintergrund.

Der Pfarrer nutzt das Interesse der Kunstakademie in Dresden, die die Stabkirche von Butangen gern in ihrer Nähe aufbauen würde, und verkauft ihr das Bauwerk. Von den Einnahmen soll der Bau einer neuen und schlichten Kirche bezahlt werden. Schweigaard trifft die Vereinbarung, ohne sich mit jemandem zu besprechen. 

Die Kunstakademie schickt den Studenten Gerhard Schönauer, der den Auftrag hat, sich um den Abbau und Abtransport der Stabkirche zu kümmern. Der Akademie ist der kultur- und kunsthistorische Wert des Gebäudes bewusst: Sie will der Nachwelt den Blick auf diese ungewöhnlichen Bauwerke erhalten, die durch die Verordnung bedroht sind.

Doch die beiden Männer spüren Widerstand: Die zwanzigjährige Astrid Hekne, eine Nachfahrin des Stifters der Schwesterglocken, ist nicht nur über den Verkauf der alten Kirche entsetzt. Was sie weit mehr ärgert ist, dass die Glocken Bestandteil des Kaufvertrags sind. Der Pfarrer hat ihre Bedeutung für Butangen und noch mehr für die einst wohlhabende Familie Hekne, der es erst nach ihrer Spende wirtschaftlich schlecht ging, ignoriert. Dieser Fehler soll sich als verhängnisvoll erweisen.


Wie war's?


Mit Die Glocke im See ist Mytting ein Roman gelungen, der einen wichtigen Teil der norwegischen Geschichte und Kultur in eine Handlung einbettet, die auch den Alltag der Einheimischen und - ein bisschen Gefühl schadet nie - eine tragische Liebesgeschichte mit einbezieht. Man versteht, warum sich die Menschen nicht auf einen abstrakten Gott verlassen wollten, sondern noch lange an ihren Mythen und dem allgegenwärtigen Aberglauben festhielten. Alles Unerklärliche, was möglicherweise zu einer Bedrohung werden konnte, musste irgendwie im Zaum gehalten und milde gestimmt werden. 

Das Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd geschrieben und lässt seine Leser in die damaligen Verhältnisse eintauchen. Wenn man etwas kritisieren kann, dann die Wahl des Titels der deutschsprachigen Ausgabe: Im norwegischen Original heißt das Buch Søsterklokkene, was deutlich passender ist als die vom Insel Verlag gewählte Variante.

Die Glocke im See ist im Januar 2019 erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro sowie als E-Book 20,99 Euro.


Dieser Titel ist der fünfte, den ich anlässlich der kommenden Frankfurter Buchmesse vorstelle, deren Gastland diesmal Norwegen ist. Dies waren die vorangegangenen Bücher norwegischer Autoren:


Nachtrag:
Von den ehemals schätzungsweise 2.000 Stabkirchen gibt es in Norwegen heute nur noch 28. Es hat zwar keine Umsetzung einer Kirche nach Dresden gegeben, wohl aber eine ins polnische Riesengebirge nach Karpacz. Die Kirche Wang wurde im 12./13. Jahrhundert in der südnorwegischen Ortschaft Vang errichtet und auf Initiative des aus Norwegen stammenden und in Dresden als Kunstprofessor tätigen Johan Christian Clausen Dahl ab- und zwischen 1842 und 1844 in Karpacz wieder aufgebaut.


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