Sonntag, 13. Oktober 2019

Literaturnobelpreis - Wie eine angesehene Auszeichnung die Szene spalten kann

1901 beginnt die Geschichte der insgesamt fünf
(fast) jährlich vergebenen Nobelpreise. Den Nobelpreis für Literatur erhielt damals der Franzose Sully Prudhomme. Zu seinen bekanntesten Werken zählt das Gedicht Le Vase brisé. Nie gehört? Ich auch nicht. Aber Wikipedia wird schon recht damit haben.

Wenn ein Kriterium nicht entscheidend ist, um in dieser Kategorie ausgezeichnet zu werden, dann, dass der Nachwelt etwas hinterlassen wird, was auch noch drei oder vier Generationen später begeisterte "Ahs" und "Ohs" hervorruft. Die Vergabe des Nobelpreises ist auch ein Spiegel der jeweiligen Zeit, in der sie stattfindet. Vielleicht hat das Gremium auch den Wunsch, mit der Preisvergabe ein Zeichen zu setzen.

Vor drei Tagen wurden die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk und der österreiche Schriftsteller Peter Handke auf den Nobelthron des Jahres 2018 bzw. 2019 gesetzt. Zur Erinnerung: 2018 wurde kein Literaturnobelpreis vergeben, weil sich einzelne Mitglieder der Jury nicht nur danebenbenommen, sondern gleich einen richtigen Skandalberg aufgehäuft hatten. Der Ehemann eines Komiteemitgliedes hatte nicht nur das Amt seiner Frau ausgenutzt, sondern wurde auch wegen mehrfacher Vergewaltigung angezeigt. Die Glaubwürdigkeit und der Ruf des Gremiums waren nachhaltig erschüttert.

Nun also eine Frau und ein Mann. Wie die
Komiteemitglieder zu ihrer Entscheidung gekommen sind, entzieht sich jedermanns Kenntnis. Inwieweit man der offiziellen Begründung folgen darf? Der Spekulation sind Tür und Tor geöffnet. Soll die hälftige Mann/Frau-Aufteilung suggerieren, hier habe man auf Geschlechtergerechtigkeit geachtet? Das zu glauben, fällt schwer: Olga Tokarczuk ist die 15. Preisträgerin, dagegen konnten 100 schreibende Herren Medaille und Preisgeld in Empfang nehmen. Ein klitzekleine Schieflage ist hier durchaus erkennbar.

Der Blick über den literarischen Tellerrand war für die Nobelkomitees all die Jahre ebenfalls nicht leicht, wenn man sich die Auswahl anhand ihrer geografischen Ausgewogenheit ansieht: Wenn ich mich nicht völlig verzählt habe, haben sich die Mitglieder 80 Mal für Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Europa entschieden. Zehn kamen aus den USA, nur drei aus Afrika. Zu glauben, dass da irgendwie ein Proporz eine Rolle gespielt hat, wäre sicher Unsinn.

Nächster Anlauf, die Auswahl des Komitees nachzuvollziehen. Haben möglicherweise die Botschaften, die Frau Tokarczuk und Herr Handke ihrem Lesepublikum vermittelt haben, den Ausschlag gegeben? Wenn man den Worten des Sprechers folgt, der den wartenden Medien in Stockholm die Entscheidung verkündet hat, weitet das Werk der polnischen Autorin den "Blick auf Mittel- und Osteuropa". Das stimmt. Olga Tokarczuk hat sich in ihren Werken derart deutlich gegen die konservative Regierung ihres Heimatlandes positioniert, dass sie seit Langem Morddrohungen erhält.

Peter Handke hat insbesondere dadurch auf sich aufmerksam gemacht, dass er für sich Theater neu definiert hat: In einem seiner Schauspiele ("Publikumsbeschimpfung", Erstaufführung 1966) werden die Zuschauer mit "Nettigkeiten" überhäuft. Es sollte ein Protest gegen die Altnazis sein. Wie es dazu passt, dass sich Handke Jahrzehnte später mit einer Grabrede von einem brutalen Autokraten - dem serbischen Ex-Diktator Slobodan Milosevic - verabschiedete und behauptete, dieser sei an dem  Massaker in Srebrenica, bei dem 1995 etwa 8.000 bosnische Muslime ermordet wurden, gänzlich unschuldig und habe noch nicht einmal etwas davon gewusst, bleibt sein Geheimnis.

Und dann gibt es da noch Literaturkritiker wie Denis Scheck. Scheck kann sich vor Begeisterung kaum noch einkriegen. Noch am Abend der Bekanntgabe der Preisträger/in spricht er im SWR in der Sendung Kunscht! lobend von der Nobelkomission als "Bastion politischer Korrektheit", die es unterlassen hat, Handke wegen seiner politischen Irrwege nicht auszuzeichnen. Am selben Tag nennt Scheck die Entscheidung zugunsten des Österreichers in der ZDF-Sendung Kulturzeit "eine schallende Ohrfeige ins Gesicht der politischen Korrektheit". Ich bin verwirrt, Herr Scheck: Ist damit gemeint, dass sich die Komissionsmitglieder gegenseitig vermöbeln?

Literatur und die Bewertung ihrer Güte bleiben Geschmackssache. Was mich stört, ist die augenscheinlich so unterschiedliche Herangehensweise, nach der Preisträgerinnen und Preisträger ausgewählt werden. Auch die Vorbehalte gegen Literatur aus Asien, Afrika oder Mittel- und Südamerika werden - von den sehr wenigen Ausnahmen abgesehen - weiterhin kultiviert.

Der Preisstifter Alfred Nobel hat vor 134 Jahren in seinem Testament verfügt, nach welchen Gesichtspunkten die nach ihm benannten Preise vergeben werden sollen. Dort ist davon die Rede, dass "Preise denen zugeteilt werden, die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen gebracht haben." Außerdem soll der Literaturpreis dem gegeben werden, "der in der Literatur das beste in idealistischer Richtung geschaffen hat".
Zum Schluss heißt es: " Es ist mein ausdrücklicher Wille, dass bei der Preisverteilung keinerlei Rücksicht auf die Nationalität genommen werden darf, so dass nur der Würdigste den Preis erhält, ob er nun Skandinavier ist oder nicht..."

Ich habe seit Jahren einen Kandidaten, dem ich wünsche, den Nobelpreis zu bekommen. Der aus Kenia stammende und heute in den USA lebende Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o hat es meiner Meinung nach verdient, geehrt zu werden. Seit etlichen Jahren heißt es, er stünde auf der Nominierungsliste. Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass er eher für die "Hall of Fame der ewigen Anwärter" als für den Nobelpreis vorgesehen ist. Aber irgendwann wird sich die Bastion der politischen Korrektheit vielleicht daran erinnern, welches Anliegen Alfred Nobel mit seiner Stiftung verfolgt hat.

Einen ersten Eindruck von Ngũgĩ wa Thiong’os Werk gibt es in der Besprechung seines Hauptwerkes, Herr der Krähen.

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