Freitag, 7. Februar 2020

# 228 - Wie es sich zwischen den Fronten lebt


Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow beschreibt in seinem Roman Graue Bienen die Leiden der zivilen Bevölkerung in den Zeiten des Krieges in der Ukraine. Die Handlung ist in der sogenannten "Grauen Zone" angesiedelt: Das Gebiet mit einer Länge von ca. 450 Kilometern, in dem sich etwa 100 Dörfer befinden, ist so etwas wie eine Pufferzone zwischen der ukrainischen Armee und den für Russland kämpfenden Separatisten. Beide Seiten beanspruchen es für sich.

Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei Männer, die nach drei Kriegsjahren hier allein in einem Dorf im Niemandsland leben. Alle ihre Nachbarn sind längst geflohen. Seit ihrer Kindheit sind die beiden verfeindet, aber im Laufe der Zeit hat diese Feindschaft Rost angesetzt: Sie sind jetzt beide um die 50, Frührentner und allein. Der Mangel an vielem, was vor dem Krieg selbstverständlich war, zwingt sie zur Sparsamkeit und Improvisation. Auch die Einsamkeit und die Angst, unter Beschuss zu geraten, bringt sie einander allmählich näher. Der fast tägliche Geschützdonner ist längst Teil ihres normalen Alltags geworden.

Für den einen von ihnen, Sergej Sergejitsch, sind seine Bienen sein Lebensinhalt, nachdem er von seiner Frau und seiner Tochter verlassen wurde. Der Honig lässt sich gegen andere Lebensmittel tauschen und hin und wieder kommen zahlende Kunden, die von der Heilkraft der Bienen gehört haben und auf den Bienenkörben schlafen wollen. 
Sergej interessiert sich nicht für die Ursachen des Krieges, er nimmt ihn nur als Dauerstörung seines Lebens wahr. Das scheinen auch die Bienen zu tun: Die häufigen Detonationen in der Umgebung stören die Tiere in den Bienenkörben in ihrer Winterruhe. Sergej befürchtet, dass die aufgeregten Bienen sich in alle Winde zerstreuen und er sie verlieren könnte, wenn er sie aus den Körben ließe. Also beschließt der Imker im anbrechenden Frühling, seinen Tieren einen ruhigen Platz zu suchen, und fährt mit den Bienenkörben im Anhänger Richtung Westen.

Sergej macht nach einigen Stunden Autofahrt auf einer Lichtung in der Nähe eines Dorfs halt. Zunächst lässt sich alles gut an: Den Bienen geht es gut, die Ladeninhaberin des Dorfes versorgt ihn mit Essen und menschlicher Nähe. Aber für die Einheimischen ist er ein Fremder, manche vermuten sogar, er sei ein Flüchtling. Als ihm ein vom Krieg traumatisierter junger Mann eines Nachts sämtliche Autoscheiben zertrümmert, reist Sergej mit seinen Bienen weiter.

Sergejs nächste Station ist auf der Krim. Dass er in dem von Russland annektierten Gebiet als Ausländer behandelt werden würde, war ihm vorher nicht bewusst. Sergej hat vor mehr als 20 Jahren während eines Bienenzüchterkongresses Achtem Mustafajew, einen Krimtartaren, kennengelernt. Dort angekommen erfährt er, dass sein damaliger Zimmergenosse zwei Jahre zuvor vom FSB verschleppt wurde und seine Familie seitdem kein Lebenszeichen von ihm erhalten hat. Achtems Frau und Kinder sind gegenüber Sergej hilfsbereit und gastfreundlich, aber die Situation der Familie verschärft sich während seiner Anwesenheit. So sehr ihm die Landschaft gefällt, so sehr spürt er, dass er auch hier ein Fremder ist: sowohl für die Tartaren als auch für die Russen, die ihm misstrauen, weil er zu Tartaren Kontakt hat. Sein Wunsch, alles möge wieder so sein wie vor dem Ausbruch des Krieges, verstärkt sich.

Die Bienen werden für den Imker mit jeder Erfahrung, die er während seiner Fahrt macht, zu einem immer größeren Vorbild: An ihnen lässt sich erkennen, wie ein geordnetes und produktives Staatswesen funktioniert. Ihr Leben ist gewissermaßen der Gegenentwurf zu den ungeordneten und gewalttätigen Zuständen in der Ostukraine.

Lesen?

 

In Graue Bienen bringt Andrej Kurkow seinen Lesern das Leben der Menschen näher, die in der Öffentlichkeit fast nicht wahrgenommen werden. Die Bewohner der Grauen Zone sind von allem abgeschnitten, was das Leben, das wir für normal halten, ausmacht: Es gibt weder Strom noch fließendes Wasser, es gibt keine Läden, in denen Lebensmittel gekauft werden könnten, es gibt keine Post und keine Geldausgabe, viele Wohnhäuser und öffentliche Gebäude wurden zerstört. Wovon es reichlich gibt, ist die Angst, versehentlich in eine Tretmine zu geraten oder von einem Heckenschützen getötet zu werden. Diese dauerhaft angespannte Atmosphäre, gepaart mit einem großen Durchhaltewillen und einer gewissen Portion Phlegma wird von Kurkow sehr gut vermittelt.

Andrej Kurkow hat sich mit seinen russlandkritischen Büchern bei der dortigen Regierung keine Freunde gemacht. Seit einigen Jahren dürfen sie nicht mehr nach Russland eingeführt werden, weil der Autor auf einer schwarzen Liste steht. Es ist Kurkow zu wünschen, dass er mit seinem Buch sein Ziel erreicht: dass sich die Weltöffentlichkeit wieder dem Ukrainekonflikt zuwendet und ihn aus seinem aktuell eingefrorenen Zustand dem Frieden zuführt.

Graue Bienen ist 2019 im Diogenes Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro sowie als E-Book 20,99 Euro.

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