Freitag, 19. Februar 2021

# 278 - Wenn eine Sprache verstummt, stirbt auch eine Kultur

Dieses Buch ist ein echtes Highlight für alle, die sich für Sprachen begeistern können und hat kaum Ähnlichkeit mit den Atlanten, die wir aus unserer Schulzeit kennen: In ihrem Atlas der verlorenen Sprachen begibt sich Rita Mielke auf alle Kontinente und stellt beispielhaft jeweils einige Sprachen vor, die bereits untergegangen oder nur noch wenigen Menschen geläufig sind.

Mielke hat 50 Sprachen ausgewählt, und man erfährt nicht nur statistische Daten wie deren Verbreitungsgebiet oder die Zahl der Sprecher, sondern auch viele interessante Besonderheiten.

Da ist zum Beispiel Khosian. Die Sprache ist in Botswana, Namibia, Angola und Südafrika beheimatet. Sie erschien den Europäern, die seit dem 17. Jahrhundert dabei waren, den Kontinent zu unterwerfen, so fremdartig, dass sie sie als "Hottentott" bezeichneten. Die Redewendung "Das sieht hier aus wie bei den Hottentotten" geht also auf die Kolonialzeit zurück und bewertet alles Fremdartige als minderwertig. Khosian bestand ursprünglich nur aus Schnalz- und Klicklauten, erst seit 1982 gibt es ein afrikanisches Referenzalphabet. 
Eine traurige Berühmtheit erlangte die 1789 geborene Sklavin Sarah Baartman, die wegen ihrer Sprache und ihres Aussehens im Alter von 20 Jahren nach Europa gebracht und dort zur Schau gestellt wurde. Auch ihr viel zu früher Tod in Frankreich konnte nicht dazu führen, sie als Mensch und nicht nur als Ausstellungsstück zu sehen.

Aus dem alten China stammt die ausgestorbene Sprache Nushu. Sie war eine ausschließlich von Frauen verwendete Geheimsprache und hatte ihren Ursprung in der Provinz Hunan. Nushu diente nicht nur der Kommunikation, sondern stand symbolisch für den Versuch, sich aus der männlich verordneten Unmündigkeit und Unselbstständigkeit zu befreien, die Frauen von Bildung ausschloss und sie ans Haus band - nicht zuletzt wegen ihrer traditionell gebundenen Lotusfüße, die das Gehen zur Qual machten. Die Kenntnisse des Nushu-Schreibens und -Sprechens wurden von einer Generation zur anderen weitergegeben, immer unter den Vorzeichen der absoluten Geheimhaltung.

Rita Mielke vermittelt nicht nur ihr Wissen um die Sprachen, sondern beleuchtet auch, in welchem politischen, gesellschaftlichen und/oder ökonomischen Kontext sie entstanden und untergegangen sind. Atlas der verlorenen Sprachen ist also nicht nur ein "Sprachbuch", sondern auch eine Quelle vieler historischen Begebenheiten und Entwicklungen, die zum Verständnis von Sprachentwicklungen nötig sind. 

Die Illustrationen von Hanna Zeckau veranschaulichen die Darstellungen und machen das Buch "rund".

Lesen?

Na klar! Der Atlas der verlorenen Sprachen ist auch für diejenigen sehr gut verständlich, die sich bislang noch nicht näher mit diesem Thema beschäftigt haben und dürfte auch für Experten einige Überraschungen bereithalten.

Atlas der verlorenen Sprachen ist 2020 im Dudenverlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 28 Euro.

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