Freitag, 26. Februar 2021

# 279 - Mittagsstunde ... und andere Rituale auf dem Dorf

Dörte Hansen hat sich mit ihrem Buch Mittagsstunde nach ihrem Erfolgsroman Altes Land wieder in ein Dorf begeben. Diesmal jedoch nicht in das Hamburger Umland mit seinen Obstbäumen, sondern nach Schleswig-Holstein in die Nähe von Husum. Das fiktive Dorf Brinkebüll liegt in der friesischen Geest, einer dünn besiedelten und kargen Landschaft.

Im Mittelpunkt steht Ingwer Feddersen. Der promovierte Archäologe ist in Brinkebüll als Enkel des Gastwirtehepaars Ella und Sönke Feddersen aufgewachsen, hat auf dringendes Anraten des Dorfschullehrers das Gymnasium besucht und ist zum Studieren nach Kiel gegangen. Damit hat er sich gegen die Tradition entschieden, denn für Sönke Feddersen war es eigentlich klar gewesen, dass Ingwer mal den Gasthof übernehmen würde. So wie schon sein eigener Vater, Großvater und Urgroßvater es getan hatten. Tradition verpflichtet schließlich. 

Aber jetzt ist der Junge, der mittlerweile schon fast 50 ist, weit weg und arbeitet als Dozent an der Kieler Uni. Das an sich ist für Sönke schon seltsam genug, aber Ingwer hat auch keine eigene Familie, sondern lebt bereits seit einer Ewigkeit in einer WG mit einer Frau und einem Mann in seinem Alter. Wenn das jetzt nicht wirklich eigenartig ist, was dann sonst?

Aber Sönke und Ella sind nun alt geworden, schon über 90, und Ingwer nimmt sich 2012 ein Sabbatjahr, um die beiden Alten eine Weile zu pflegen und zu überlegen, was aus der Gaststätte werden soll. Sönke ist geistig hellwach, aber körperlich gebrechlich, während Ellas Verstand stark abgebaut hat. Sie lebt immer mehr in der Vergangenheit. 

Ihre Tochter Marret, "die Verdreihte", ist schon seit vielen Jahren verschwunden. Niemand weiß, was aus ihr geworden ist. Marret war das, was man heute als verhaltensauffällig bezeichnen wurde, und Ingwer dämmert erst nach und nach, was es mit der Familiengeschichte der Feddersens eigentlich auf sich hat.

Dörte Hansen befindet sich jedoch nicht nur in der Gegenwart, sondern erklärt in zahlreichen Rückblicken, wie das Dorf mit seinen Bewohnern wurde, was es heute ist, und was es ausmacht. Schützen- und Gesangsvereine spielen keine Rolle, wohl aber die vielen Teppiche, unter die der ganze soziale Unrat gekehrt wurde; das, was nicht jeder wissen durfte und worüber man am besten niemals sprach. Da sind die Kuckuckskinder, die verkorksten Ehen, Väter, die ihre Kinder gewohnheitsmäßig grün und blau schlagen und die Veränderungen, die auch vor einem verschlafenen Nest wie Brinkebüll nicht haltmachen.

Die Flurbereinigung von 1964 gab den Anstoß für eine ganze Reihe von Veränderungen: Vermesser kamen nach Brinkebüll, die kleinen Felder wurden zu größeren zusammengelegt und die alte schadhafte Dorfstraße wurde durch eine glatte Durchfahrtsstraße ersetzt, die sogar eine Mittellinie bekam. Dafür mussten viele alte Kastanien weichen. Das Dorf erhielt dadurch einen anderen Charakter, zog Neubürger an, die sich am Ortsrand ihre Häuschen bauten und erfuhr eine Wandlung, die den Alteingesessenen zwar nicht gefiel, die sie aber nicht aufhalten konnten. Die althergebrachten Strukturen lösten sich auf und andere entstanden. Ob sie besser waren, ist eine ganz andere Frage.

Die Handlung wird begleitet vom Soundtrack der 1960-er und 1970-er Jahre. Ingwer Feddersen hört die Musik von Neil Young, wenn er zur Ruhe kommen will, und die einzelnen Kapitel sind nach Songs aus den alten Zeiten von Brinkbüll - von Interpreten von Manuela über Janis Joplin und Bob Dylan bis zu Roland Kaiser - benannt.

Lesen?

Dörte Hansen widmet sich in ihrem Roman nicht nur den Einwohnern von Brinkebüll mit ihren Marotten und Geheimnissen, sondern auch der Frage, was die junge Generation der alten schuldig ist. Haben die Nachkommen eine Verpflichtung gegenüber den Alten, weil die sich in ihrer Kindheit und Jugend um sie gekümmert haben?

Darüber hinaus werden mit der Flurbereinigung nicht nur deren Folgen für einzelne Menschen im Dorf geschildert, sondern die Autorin beschäftigt sich auch mit den Auswirkungen dieser weitgreifenden Maßnahme für die Natur und die Struktur Deutschlands. Mithilfe der Flurbereinigungen sollte während der Jahre des deutschen Wirtschaftswunders erreicht werden, dass kleine und schlecht zu erreichende Äcker so umstrukturiert wurden, dass es am Ende des Prozesses nur noch große Felder gab, die sich für moderne Landmaschinen eigneten. Dafür wurden natürliche Hecken gerodet, Bäche stillgelegt oder umgeleitet und Feuchtgebiete trockengelegt. Das Sterben der kleinen Höfe begann und das Artensterben gleich mit.

Mittagsstunde ist ein sehr einfühlsam geschriebenes Buch. Das, was lange im Verborgenen geblieben war, wird von Dörte Hansen oft nur angedeutet: mit einem Nebensatz oder einer im Suff herausgerutschten Bemerkung. Die Atmosphäre bekommt durch zahlreiche plattdeutsche Dialoge viel Authentizität, sodass das Ende des Romans nach der letzten Seite viel zu früh kommt. Das Bild über die Vergangenheit der Dorfbewohner setzt sich erst nach und nach zusammen, vieles kommt einem bekannt vor. Brinkebüll: Der Name steht stellvertretend für viele Dörfer. Klare Leseempfehlung!

Mittagsstunde ist 2018 im Penguin Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro, als Taschenbuch 12 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.

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