Samstag, 15. Mai 2021

# 290 - Recht und Gerechtigkeit sind manchmal schwer vereinbar

Der Göttinger Anwalt Markus Thiele hat mit seinem Roman Die Wahrheit der Dinge versucht, dem Konflikt auf die Spur zu kommen, dem sich die Rechtsprechung immer wieder ausgesetzt sieht: Sind Urteile, die sich streng an die gesetzlichen Vorgaben halten, immer gerecht?

Thiele lässt seine Hauptfigur Frank Petersen, einen ambitionierten Richter am Hamburger Landgericht, dieser Frage nachgehen. Petersen war von der Richtigkeit seiner Urteile immer überzeugt. Erst in letzter Zeit musste er erleben, dass einige von ihnen vom Bundesgerichtshof zurückverwiesen wurden. Für ihn ist jedes einzelne gekippte Urteil eine persönliche Niederlage.

Das sture Festhalten an den Paragraphen sorgt auch in Petersens Ehe immer wieder für Auseinandersetzungen. Seine Frau Britta hält ihn für einen rechthaberischen Klugscheißer mit lebensfremden Ansichten. Sie hat die Konsequenzen gezogen und sich mit dem gemeinsamen Sohn vorläufig ausquartiert, nachdem sich Petersens letztes Urteil gegen den Vater der Freundin seines Sohnes richtete. Hätte er die Übernahme des Prozesses nicht wegen Befangenheit ablehnen können?

Petersen beginnt, sich und seine Einstellung zum Recht zu hinterfragen und begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit. Im Oktober 2010 hat am Hamburger Strafgericht die Nebenklägerin Corinna Maier den Angeklagten kurz vor der Urteilsverkündung erschossen. Der Richter damals: Frank Petersen.

Corinna Maier hat ihre Gefängnisstrafe abgesessen und Petersen beschließt, sie von dort abzuholen und sich der Vergangenheit zu stellen.

Lesen?

Markus Thiele greift für die Handlung zwei Fälle auf, die die Menschen in Deutschland stark beschäftigt haben und viele heftige Diskussionen nach sich zogen: Die Tötung des Mörders von Anna Bachmeier durch ihre Mutter Marianne Bachmeier während der Verhandlung im Lübecker Landgericht (1981) und die Ermordung des angolanischen Vertragsarbeiters Amadeu António Kiowa in Eberswalde durch Nazis (1990). Thiele hat diese Fälle mit der Person Corinna Maiers verwoben und verdeutlicht, dass die Diskussion darum, was unseren Rechtsstaat ausmacht, noch lange nicht zu Ende ist. Die Schwierigkeit, Recht zu sprechen und dabei gerecht zu sein, wird Berufsrichter immer begleiten. Leseempfehlung!

Die Wahrheit der Dinge ist 2021 im Benevento Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.

Anmerkung: Ich will nicht verschweigen, dass es beim Lesen des Romans einen Moment gab, an dem ich ihn fast aus der Hand gelegt hätte. Der Grund: Ich habe ein Problem damit, wenn Szenen unglaubwürdig oder sachlich falsch dargestellt werden. 

Hier zeigte sich die Unglaubwürdigkeit ausgerechnet in der Hauptfigur des ambitionierten Richters Petersen: Im Gespräch mit der Gerichtspräsidentin schildert er seine momentane Verunsicherung und bietet an, das Gericht zu verlassen. "Wie müsste ich das anstellen? Ich bin Beamter. Kann ich einfach kündigen? Wie geht so etwas vor sich?", fragt er seine Vorgesetze auf Seite 29. Es ist nicht vorstellbar, dass ein Richter (Petersen) und ein Rechtsanwalt (Thiele) nicht wissen, dass ein Richter - trotz vieler Überschneidungen - kein Beamter ist. Ein Richter ist im Gegensatz zu einem Beamten gem. Art. 97 Grundgesetz unabhängig und keinen Weisungen unterworfen. Was passiert, wenn das nicht der Fall ist, kann man in verschiedenen Staaten wie z. B der Türkei beobachten.

Kündigen können weder Beamte noch Richter. Sie können ihren Dienstherrn um Entlassung bitten, der diesem Wunsch dann entspricht oder eben nicht.

Der Gerichtspräsidentin ist sonnenklar, dass Richter Petersen eine Auszeit benötigt, die möglicherweise mit dem üblichen Jahresurlaub nicht abgedeckt ist. Großzügig kramt sie im Gespräch mit ihm ein Formblatt hervor, mit dem dieser Sonderurlaub beantragen kann. "Stellen Sie einen Antrag! Genügen sechs Monate? Oder lieber ein Jahr?" (S. 80) Wer jetzt vor Neid erblasst, weil einer privilegierten Berufsgruppe scheinbar alles in den Allerwertesten geblasen wird, der kann sich sofort beruhigen: Unter den Sonderurlaubsverordnungen in Deutschland gibt es keine einzige, die es ermöglicht, dass das Personal beim Bund und den Ländern auf Staatskosten per Sonderurlaub monatelang entspannen kann. Petersens Chefin wird etwas später (S. 82) konkret: "Gönnen Sie sich eine Pause, Frank. Sechs Monate, fürs Erste. [...] Wir machen was auf Gesundheit, dann behalten Sie Ihre Bezüge." Ja, solche Vorgesetzten wünscht sich jeder, oder? 

Möglicherweise erscheint meine Kritik dem/der einen oder anderen Leser/in kleinlich. Aber ich habe immer wieder erlebt, dass sich das nebenbei erworbene Wissen aus Romanen sehr festsetzt und dazu beiträgt, Situationen oder Sachverhalte falsch einzuschätzen. 

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