Seitdem Menschen eine Vorstellung davon haben, dass es außer dem Hier und Jetzt auch noch eine Zukunft gibt, machen sie sich darüber Gedanken. Unsere Welt hält schon jetzt viele Möglichkeiten bereit, sich das Leben durch immer mehr Technik einfacher und komfortabler zu machen und Probleme aus dem Weg zu räumen. Doch wie weit dürfen Menschen gehen?
Die britische Journalistin und Dokumentarfilmerin Jenny Kleeman hat sich in ihrem 2020 erschienen Buch Sex Robots & Vegan Meat: Adventures at the Frontier of Birth, Food, Sex and Death dieser Frage angenommen und einen Streifzug durch die kleinen und großen Labore dieser Welt unternommen. 2021 ist ihr Buch unter dem Titel Roboterland - Wie wir morgen lieben, leben, essen und sterben werden auf Deutsch erschienen.
Kleeman hat ihr Buch in vier Abschnitte aufgeteilt. Im ersten Teil geht es um die Entwicklung von Sexrobotern, die das, was man heute im Allgemeinen unter Sex Dolls versteht, weit übertreffen. Wenn die Entwickler dieser KI-gestützten Puppen recht behalten, werden Sexroboter nicht nur wie echte Menschen aussehen und sich wie sie anfühlen, sondern auch in der Lage sein, ihre Eigentümer auf ihre Art kennenzulernen. Damit sind nicht nur deren sexuelle Vorlieben gemeint, sondern auch ihr Lebensumfeld. Eine Sexpuppe der Zukunft soll mit "ihrem" Menschen Gespräche führen können, die sich nicht auf banale und vorprogrammierte Antworten begrenzen. Sie soll für die Kommunikation auf Informationen zurückgreifen können, die sie bereits über ihren Eigentümer gesammelt hat. Man kann hier ruhig von "den Eigentümern" sprechen, ohne jemanden zu benachteiligen: Sexpuppen werden fast ausschließlich von Männern gekauft. Wundert man sich darüber, dass sich viele der heutigen Kunden Sexpuppen wünschen, die widerspruchslos die Hausarbeit erledigen und ihnen jederzeit zur Verfügung stehen?
Im zweiten Teil beschäftigt sich Kleeman mit der Zukunft des Essens, speziell mit dem Verzehr von Fleisch und Fisch. Es hat sich ja mittlerweile herumgesprochen, dass tierische Nahrung für die Klimaentwicklung, den Bestand unserer Ressourcen und unsere Gesundheit alles andere als ein Hauptgewinn ist. In den Supermarktregalen finden sich heute immer mehr Produkte, die auf der Basis von pflanzlichen Bestandteilen wie z. B. Soja oder Erbsen tierische Lebensmittel imitieren. Ein in Niedersachsen ansässiger Wursthersteller, der 2019 zu den Top 10 seiner Branche gehörte, vermarktet seine vegetarischen und veganen Produkte so erfolgreich, dass er seit dem Sommer 2020 mit diesen mehr Umsatz macht als mit seinen klassischen Wurstprodukten.
Aber dass da noch eine Menge mehr geht, zeigt Kleeman anhand ihrer Beobachtungen, die sie bei ihren Besuchen in mehreren Laboren gemacht hat. Dort wird auf der Basis von tierischen Zellen Fleisch oder Fisch gezüchtet - für alle, die sich mit den Ersatzprodukten nicht zufrieden geben wollen. Die Idee des körperlosen Fleisches ist nicht neu, wird aber heute immer stärker perfektioniert. Die, die das tun, nennen ihr Produkt "Clean Meat", weil es nicht mit dem Geruch oder der Existenz von Fäkalien in Verbindung gebracht wird und dem Konsumenten kein Blut entgegentropft. Nicht zuletzt wird das Gewissen entlastet, da für dieses Kunstfleisch fast kein Tier leiden und geopfert werden musste.
Aber ist solch ein Aufwand wirklich nötig? Ist es nicht viel einfacher, auf diese aufwendige Kunstfleisch und -fisch-Entwicklung zu verzichten und gleich auf pflanzliche Ernährung umzusteigen? Ja, das wäre es. Aber in einem Interview, das Kleeman mit Bruce Friedrich, dem Geschäftsführer eines Think Tanks für die Marktbereiche Clean Meat und Fleisch auf Pflanzenbasis, führt, wird eine menschliche Schwäche deutlich, die leider nicht von der Hand zu weisen ist: die Fähigkeit des Verdrängens. Er erklärt, dass bereits seit Jahrzehnten immer wieder über die Schädlichkeit der industriellen Landwirtschaft aufgeklärt wird, aber 98 bis 99 Prozent der Menschen ihre Ernährung trotz der negativen Folgen für die Umwelt, Gesundheit und den Tierschutz nicht verändern. Friedrichs Empfehlung lautet darum: "Geben wir den Menschen, was sie wollen, doch kürzen wir die schädlichen Effekte heraus." Doch man ahnt es schon: Auch Clean Meat kommt nicht ganz ohne Tierleid aus.
Im dritten Kapitel geht es um die menschliche Fortpflanzung, genauer: um die Entwicklung einer künstlichen Gebärmutter, in der ein Fötus außerhalb des Körpers der Mutter heranwächst. Wie das so ist mit neuen Technologien, hat auch dieses als Ektogenese bezeichnete Verfahren neben den guten auch seine Schattenseiten. Frühchen, die unter den heute üblichen Bedingungen keine oder nur eine geringe Überlebenschance haben und bei denen die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sie unter lebenslangen Beeinträchtigungen zu leiden haben, könnten sich in einer künstlichen Gebärmutter unter optimierten Bedingungen körperlich besser entwickeln. Doch schon gibt es erste Forderungen, Föten auch dann ihren Müttern zu entnehmen und sie sich per Ektogenese entwickeln zu lassen, wenn die Frauen als nicht ausreichend gesund angesehen werden oder man ihren Lebenswandel als nicht angemessen für eine Schwangere beurteilt. Auch, was es für Frauen bedeutet, auf diese Weise ein Kind zu bekommen, ohne eine Schwangerschaft zu durchleben, beleuchtet Kleeman sowohl aus feministischer Sicht als auch aus der Perspektive der Arbeitgeber - denen es in erster Linie um den Erhalt der Arbeitskraft der Frau geht.
Im letzten Kapitel schildert Kleeman den womöglich künftigen Weg, den Menschen gehen könnten, wenn sie ihr Leben beenden wollen. Am Beispiel der 1997 in Australien gegründeten Organisation Exit International verdeutlicht sie deren grundsätzlich andere Sichtweise auf das Sterben und die Beweggründe, die dazu führen können, dass Menschen das eigene Leben beenden wollen. Deren Gründer Philip Haig Nitschke genügt der Wille eines Menschen zum Sterben; auf die Gründe, die zu dem Todeswunsch geführt haben, kommt es ihm nicht an. Das unterscheidet diese Organisation wesentlich von dem hier bekannteren schweizerischen Sterbehilfeverein Dignitas, der nach eigenen Angaben nur hilft, wenn ein Mensch unter einer sicher tödlich verlaufenden Erkrankung, nicht beherrschbaren Schmerzen oder einer unzumutbaren Behinderung leidet. So vage diese Voraussetzungen auch formuliert sind, so bilden sie wenigstens eine Art Entscheidungsgerüst.
Exit International wird von Nitschke dominiert, der sich im Laufe der Jahre immer neue Selbsttötungsmethoden überlegt hat. Wenn sie einen Showeffekt bieten, umso besser. Nitschkes Motive sind unklar: Vordergründig will er helfen, im Interview verwendet er jedoch das Vokabular eines Unternehmenschefs: Da ist dann von einem "erheblichen Wachstum" oder von Europa als einem "interessanten Großraum" die Rede.
Lesen?
Der Originaltitel von Jenny Kleemans Buch trifft seinen Inhalt besser als der deutsche: Die Autorin hat Situationen erlebt, die abenteuerlich anmuten. Sie hat nicht nur die Protagonisten der "schönen neuen Welt" und deren Kunden befragt, sondern sich auch die Produkte näher angesehen - bis hin zur Verkostung von künstlich hergestelltem Fleisch.
Kleeman hat den Stil einer Reportage gewählt. Das hat den Vorteil, dass die Leser hautnah dabei sind, wenn eine Sexdoll-Werkstatt oder ein Forschungslabor besichtigt wird, in dem eine künstliche Gebärmutter mit einem Schafsfötus darin gezeigt wird. Hin und wieder streut sie Personenbeschreibungen ein, die ich überflüssig finde, die aber auch nicht vom Kernthema ablenken.
Im Epilog betont Jenny Kleeman, dass es noch keine der vorgestellten Innovationen zur kommerziellen Marktreife gebracht hat, man aber in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren damit rechnen muss. Es wird deutlich, dass alle diese Entwicklungen die Gesellschaft verändern werden - die meisten von ihnen wahrscheinlich zum Nachteil von Frauen.
Leseempfehlung!
Roboterland - Wie wir morgen lieben, leben, essen und sterben werden ist im Goldmann Verlag erschienen und kostet als Klappenbroschur 16 Euro.
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