Freitag, 25. Juni 2021

# 296 - Was man von hier aus sehen kann

Mariana Leky hat die Handlung ihres Bestsellers Was
man von hier aus sehen kann
 in ein Dorf im Westerwald verlegt. Im Mittelpunkt steht Luise, deren Leben von ihrem zehnten bis etwa dreißigsten Lebensjahr nachvollzogen wird und die hier als Ich-Erzählerin auftritt.

Luises auffallendstes Wesensmerkmal ist ihre Passivität. Sowohl als Kind als auch Heranwachsende kann man über sie nur sagen: Sie läuft immer irgendwie mit. Das ist umso auffälliger, als die anderen Personen, mit denen sie ständig mehr oder weniger Kontakt hat, mindestens mit dem Attribut 'speziell' bedacht werden können. Ihre Großmutter Selma träumt hin und wieder von einer Begegnung mit einem Okapi, und alle im Dorf wissen, was das bedeutet: Innerhalb der nächsten 24 Stunden wird jemand von ihnen sterben. In einem Fall auch viel zu jung und zu tragisch. Doch Selmas Schwägerin Elsbeth weiß auch hier mithilfe ihres Aberglaubens Rat. Keinen Rat weiß sich leider der Optiker: Er war bis zu dessen Tod der beste Freund von Selmas Mann Heinrich. Heinrich lebt schon seit Jahrzehnten nicht mehr, und fast genau so lange liebt der Optiker die Witwe - hat aber nicht den Mut, ihr seine Gefühle zu gestehen. Luises Eltern nehmen wie der örtliche Einzelhändler, die mürrische und immer nörgelnde Marlies oder der Jäger Palm Nebenrollen ein, die restlichen Dorfbewohner spielen keine Rolle.

Das Dorf folgt den Klischees, das man ihm allgemein zuschreibt: Jeder bewegt sich in seinen Bahnen, man findet sich manchmal gegenseitig seltsam, hält aber zusammen, wenn es darauf ankommt. Was im Geheimen unter vier Augen erzählt wird, findet in kurzer Zeit seinen Weg zu vielen weiteren Ohren. Leky beschreibt diesen Zusammenhalt teils sehr amüsant, teils aber auch irritierend. Hier und da fragt man sich, wie viel Skurrilität eine Gemeinschaft verträgt, bevor jemand die Nerven verliert.

Selma ist unbestritten der Mittelpunkt des Dorfes oder zumindest derjenigen, die in diesem Roman eine Rolle spielen. An ihrem Küchentisch wird gelacht, getröstet und geweint. Sie gibt den Menschen um sich herum Halt und erlebt mit, dass sich ihre Enkelin Luise mit 22 Jahren verliebt. Luise hat Frederik zufällig am Waldrand in der Nähe des Dorfes kennengelernt. Er ist ein aus Hessen stammender buddhistischer Mönch und lebt in einem Kloster in Japan. Im Gegensatz zu ihr hat Frederik sich bewusst für dieses Leben entschieden, während Luise feststellt, dass ihr Dinge immer nur widerfahren sind und sie nie zu etwas Ja, sondern immer nur nicht Nein gesagt hat.

Die Liebe, die sich unerwartet in Luises Leben breitgemacht hat, droht wegen Frederiks Lebensentwurf und der großen Entfernung zwischen den beiden immer wieder unterzugehen. Zehn Jahre lang halten die jungen Leute per Brief und telefonisch den Kontakt. Luise bekommt immer wieder von ihrer Oma und dem Optiker einen dezenten verbalen Schubs, der sie daran erinnern soll, Frederik nicht aus den Augen zu verlieren. An diesem Punkt, als sie sogar dem Rat ihrer resignierenden Oma folgt, sich mit einem Mitschüler aus der Berufsschule zu treffen, ist Luises Trägheit kaum noch auszuhalten. Doch ein einschneidendes Ereignis bringt den Optiker dazu, einzugreifen - was Luise immer noch nicht möglich war.

Lesen?

Was man von hier aus sehen kann enthält viele Metaphern, die die Gefühle, Beziehungen und Verhältnisse quasi durch die Hintertür erklären. Leky schildert mit einem ganz besonderen Humor das scheinbar ereignislose Leben in diesem kleinen Dorf, das immer wirkt, als spielte sich außerhalb seiner Grenzen kaum etwas anderes Wesentliches ab.

Der Tod spielt in diesem Roman eine große Rolle. Jeder Todesfall verändert die Menschen, die davon betroffen sind, und lässt sie nicht nur spüren, dass ihr eigenes Leben ebenfalls endlich ist, sondern auch, dass die Zeit vergeht - und zwar immer schneller, je älter man wird. Und dass es für Veränderungen nie zu spät ist.

Was man von hier aus sehen kann ist ein Buch für Menschen, die die leisen und unaufgeregten Töne mögen und sich von manchmal etwas skurrilen Szenen nicht abschrecken lassen.

Was man von hier aus sehen kann ist 2017 im Dumont Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro, als E-Book 9,99 Euro sowie als Taschenbuch 12 Euro.

2 Kommentare:

  1. Ich habe dieses Buch sehr geliebt! Die Autorin scheint sich ja gerne mal mit dem Tod und dem Verlust auseinanderzusetzen. In dem Buch "Die Herrenausstatterin" war es ja auch so. Wobei ich diesen Roman weniger mochte.
    LG
    Sabiene

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    1. Ich habe von Mariana Leky bisher nur dieses Buch gelesen, es wird aber sicher nicht das letzte sein. Mit einer wechselnden Qualität muss man ja rechnen, das empfinde ich auch bei meinen Lieblingsautoren so.
      LG
      Ina

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