Wenpo Lee wurde 1936 in Nanjing, der damaligen Hauptstadt Chinas, geboren. Seit dem Sturz der Qing-Dynastie - und damit der Beendigung der 2.000-jährigen Herrschaft chinesischer Kaiser über China - im Oktober 1911 und der Ausrufung der Republik drei Monate später befand sich das Land im Aufruhr. Die unruhige und instabile Situation mündete 1927 in den bis 1949 dauernden Chinesischen Bürgerkrieg, der mit dem Sieg der Kommunisten über die nationalistische Partei Kuomintang und der Gründung der Volksrepublik China endete. Am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao Zedong die Chinesische Volksrepublik.
Das ist ein stark verkürzter geschichtlicher Abriss, der die Not, in der sich die Bevölkerung während dieser jahrzehntelangen Machtkämpfe befand, nicht annähernd beschreiben kann. Die Armut der Menschen war so groß, dass jeder um sein eigenes Überleben kämpfte.
Die Familie Lee lebte vom Getreidehandel. Als die Soldaten der Kommunistischen Partei 1948 auf Nanjing zumarschierten, war Wenpo Lees Vater klar, dass sein Geschäft unter deren Herrschaft am Ende war. Wenpo floh als 12-Jähriger mit zwei Schwestern und einem Schwager nach Taiwan. Doch seine Hoffnung, seine Familie bald wiederzusehen, erfüllte sich fast dreißig Jahre lang nicht: Mao Zedong schirmte Festland-China völlig von der Außenwelt ab. Die geflüchteten Chinesen und Chinesinnen galten als Klassenfeinde, der Kontakt zu ihnen war verboten.
Wenpo arbeitete in Taiwan in einem Fahrradgeschäft und lernte dort die Grundlagen der Mechanik. Einer Fachhochschuldozentin fiel dort die besondere Begabung des Jungen auf. Sie nahm ihn bei sich auf und bezahlte seinen Schulbesuch. Danach besuchte Wenpo erfolgreich eine Fachhochschule und eine Militärhochschule, an der er Fahrzeugtechnik studierte. Sein nächster Schritt war wieder einem glücklichen Umstand zu verdanken: Einer der dortigen Professoren hatte in Deutschland Motorentechnik studiert und riet Wenpo, das ebenfalls zu tun. Der junge Mann folgte dem Rat 1962, studierte in Aachen Maschinenbau und promovierte. Er bewarb sich erfolgreich auf eine Stelle als Ingenieur bei Volkswagen in Wolfsburg, heiratete eine Chinesin und wurde nicht viel später zum ersten Mal Vater.
1972, nachdem Mao Zedong zu einer Rückkehr zur Normalität aufgerufen hatte, wagte es Wenpo, seinem Vater einen Brief zu schreiben. Das war die erste Kontaktaufnahme mit der Familie auf Festland-China seit 24 Jahren. Es sollte noch weitere fünf Jahre dauern, bis Wenpo Lee seine Heimatstadt Nanjing wiedersah. Zwei Jahre zuvor war sein zweiter Sohn Felix geboren worden.
Lesen?
Felix Lee hat mit China, mein Vater und ich ein spannendes Buch geschrieben, in dem er anschaulich die Entwicklung Chinas von einem bitterarmen und unbedeutenden Land zu einem machtbewussten und wirtschaftlich stark prosperierenden Staat beschreibt, der einen großen Einfluss auf die Weltpolitik ausübt.
Und inwiefern war Wenpo Lee für VW ein Türöffner ins China-Geschäft? Das ist eine Anekdote, die Felix Lee gleich im ersten Kapitel beschreibt. 1978, als sein Vater dort eine Forschungsabteilung zur Entwicklung sparsamer Motoren leitete, standen einige Chinesen unangemeldet am Werkstor. Niemand wusste, was sie wollten. Einer von ihnen bezeichnete sich selbst als den chinesischen Maschinenbaumeister. Man bat ihn, den einzigen Chinesen im Werk, zu dolmetschen. Die Familie Lee war völlig in Deutschland integriert. Ihr Leben unterschied sich in nichts von dem deutscher Familien. Wenpo Lee hatte sich lange Zeit nicht mehr für die chinesische Politik interessiert und starke Zweifel, dass es sich bei der Gruppe am Werkstor tatsächlich um Chinesen handeln könnte. Für Deutsche sahen Asiaten schließlich alle gleich aus. Doch er sollte sich irren: Die Delegation wurde vom chinesischen Minister für Land- und Industriemaschinen angeführt und interessierte sich für Nutzfahrzeuge. Dieser Tag markiert den Grundstein für das Engagement von Volkswagen in China, das ohne Wenpo Lees Vermittlung so nicht oder erst später zustande gekommen wäre.
Wenpo Lee starb vor wenigen Wochen im Alter von 89 Jahren in Wiesbanden.
China, mein Vater und ich ist 2023 im Aufbau Verlag erschienen. Mir lag die Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung aus dem Jahr 2024 vor, die 5,-- Euro kostet.
Felix Lee gewann 2023 mit seinem Buch den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis.
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