Eine Übersetzung, die ein Leben verändert
London im April 2013: Die Übersetzerin Iona Kirkpatrick beginnt mit ihrer Arbeit an einem Stapel fotokopierter chinesischer Schriftstücke. Der ihr bis dahin nicht bekannte Verleger Jonathan Barker hat ihr vor einigen Wochen ein ungeordnetes Konvolut von Tagebüchern und Briefen gegeben, von denen er den Eindruck hat, dass hinter ihnen etwas Bedeutendes stecken könnte. Tatsächlich soll sich diese Vermutung bestätigen. Um diesen Plot rankt sich die Geschichte, die die chinesische Autorin Xiaolu Guo in ihrem Roman Ich bin China erzählt.
Das Individuum ist der Feind des Kollektivs
Iona führt ein Leben in einer selbstgewählten Einsamkeit: Außer der wechselnden Sexualpartner, zu denen sie keine emotionale Bindung hat und die sie nach einer gemeinsamen Nacht aussortiert wie einen Packen Altpapier, bekommt sie keinen Besuch. Ihre Schwester, die in ihrer Rolle als Mutter aufgeht, sieht sie selten, die Eltern noch seltener. So vertieft sie sich in die chinesischen Aufzeichnungen, die ihr zunächst rätselhaft erscheinen. Doch nach und nach begreift sie, dass sie eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen zwei Chinesen vor sich hat, die von Anfang an schwierig ist und durch das politische System behindert wird. Sie beginnt Anfang November 1993: Kublai Jian ist 21 Jahre alt, Student und Punk-Musiker in Peking, die 18-jährige Deng Mu ist als Besucherin beim Konzert seiner Band. Schon zwei Monate später kritisiert Jian seine Freundin in einem seiner Tagebucheinträge: Sie hat begonnen, sich für den Dichter Hai Zi zu interessieren, der für ihn nicht akzeptabel ist, weil er dessen Lyrik für rückgewärtsgewandt und morbide hält. Was soll man schon über einen denken, der sein Leben mit 25 auf Eisenbahnschienen liegend beendet?
Im Laufe der Jahre werden Mu und Jian ihre Höhen und Tiefen mteinander haben, für eine kurze Zeit sind sie sogar Eltern eines Sohnes. Doch dann, im Dezember 2011, wird Jian außer Landes gebracht, nachdem man ihn zuvor in der Gefangenensammelstelle vor der Stadtgrenze Pekings festgehalten hatte. Ihm ist zum Verhängnis geworden, während eines seiner Konzerte ein politisches Schriftstück, das er als sein Manifest bezeichnet, ins Publikum geworfen zu haben. Ein Schriftstück mit den Gedanken des Künstlers, die sich nicht an die Staatsdoktrin halten wollen. Das kann nicht gutgehen, zumal Jian einer Familie angehört, zu der ein Kriegsheld und ein hoher Funktionär gehören. So wird eine Nervenklinik in Lincolnshire seine erste Station, der noch weitere folgen sollen. Aber Jian und Mu versuchen noch eine Weile, den Kontakt durch Briefe aufrechtzuerhalten, die jedoch immer verzögert ihre Empfämger erreichen: Nicht nur Jian wechselt mehrmals den Aufenthaltsort, sondern auch Mu versucht, sich ohne ihren Freund ein eigeständiges Leben als singende Protest-Lyrikerin aufzubauen. Ein Manager formt eine Band mit ihr als Frontfrau und organisiert eine USA-Tour, die den Protest kommerzialisiert. Damit entfernt sie sich ein gutes Stück von der Idee Jians, mit Musik eine politische Veränderung zu bewirken.
Der Sog einer Lebensgeschichte
Iona vertieft sich so sehr in die chinesischen Unterlagen, dass sie ihr eigenes Leben zunehmend aus den Augen verliert. Immer tiefer steigt sie in die chinesische Geschichte um Mao und den Langen Marsch ein, um zu verstehen, was in Mu und Jian vorgeht und worauf deren Konflikte begründet sind. Sie recherchiert ausführlich, und zusammen mit Jonathan gelingt es ihr, die Puzzleteile, die zu Jiangs Leben gehören, zu einem großen Ganzen zusammenzuführen. Der Lebensabschnitt von Jian in Europa beginnt keine 1 1/2 Jahre vor Ionas Übersetzungsarbeit, sodass die Übersetzerin in dem Gefühl arbeitet, sie laufe den frischen Spuren der beiden Chinesen hinterher. Jonathan ist von der Entwicklung und den Erkenntnissen, die mit Ionas Arbeit gewonnen werden konnten, so begeistert, dass er die Unterlagen unbedingt als Buch herausbringen will. Doch da gibt es Leute, die seine Pläne verhindern wollen: Jemand hat sich Zugang zu allen gespeicherten Projektdaten verschafft, die beim Verlag vorhanden sind. Kurz darauf wird Jonathan zum ersten Mal und ohne eine stichhaltige Begründung ein Visum nach China verwehrt. Er beschließt trotz Ionas Protest, die Veröffentlichung zu stoppen. Iona hat sich indessen eine ganz andere Idee in den Kopf gesetzt: Sie will versuchen, den Konatkt zwischen Mu und Jian wieder herzustellen.
Ein großer Bogenschlag in der Geschichte Chinas
Ich bin China geht in der chinesischen Geschichte so weit zurück, wie es nötig ist, um insbesondere Jians Lebensweg zu erklären, nämlich bis zur Zeit des Langen Marsches 1934 bis 1935. Xiaolu Guos Roman ist sehr vielschichtig angelegt und zeigt den Konflikt zwischen dem früheren und modernen China auf, in dem Individualität und Freiheit bis heute der Stabilität und Ordnung untergeordnet sind. Ein Buch, das ich unbedingt empfehlen kann.
Ich bin China wurde mir vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke. Es ist 2015 im Knaus Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 19,99 €.
Hinweis: Wer sich für den Maoismus in China interessiert, sollte sich auch das Buch Das Mädchen aus der Volkskommune - Chinesische Comics ansehen.
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