Ein Lehrstück über die Kunst der Manipulation
Der vom Leben frustrierte College-Professor Samuel Anderson
erhält 2011 einen Anruf einer Anwaltskanzlei. Seine Mutter ist in
Schwierigkeiten und benötigt dringend seine Hilfe, um nicht für viele Jahre ins
Gefängnis gehen zu müssen. Faye hat den ehemaligen Gouverneur Sheldon Packer
attackiert, der für die Republikaner als US-Präsident kandidieren will. Der
zuständige Richter hat für diesen Fall seinen Ruhestand verschoben und will
Faye so hart wie möglich bestrafen. Samuel soll nun einen Brief schreiben, in
dem er beteuert, welch ein großartiger Mensch seine Mutter sei. Nur so könne
das Urteil gegen Faye eventuell milder ausfallen. Was für die meisten Söhne und
Töchter kein Problem ist, empfindet Samuel allerdings als Zumutung. So beginnt das Romandebut Geister des US-Autors Nathan Hill, das im weiteren Verlauf etliche Überraschungen bereithält.
Eine Handvoll Kieselsteine für ein Attentat?
Die 61-jährige Faye hat bei einem öffentlichen Auftritt des
Ex-Gouverneurs Packer in einem Chicagoer Park diesen unvermittelt mit
Kieselsteinen beworfen. Das bringt der bislang unbekannten Seniorin eine Weile
die Schlagzeilen in den Nachrichten, die Endlosschleife eines Videos auf allen
Nachrichtenkanälen, auf dem der Vorfall zu sehen ist, sowie eine Strafanzeige
ein, die eine ganze Latte von Vergehen beinhaltet, die sie damit begangen haben
soll. Das Fernsehen nennt sie nicht mit ihrem Namen, sondern kreiert den
griffigen Titel „The Packer-Attacker“. Die augenscheinlich nicht geplante
Aktion sorgt auch dafür, dass nicht nur über sie, sondern auch über den
Kandidaten Packer in allen Medien rauf und runter berichtet wird. Faye wird zur
„Alt-68erin“ stilisiert und in die Nähe von Al-Qaida gerückt.
Samuel ist nach dem Telefonat mit Fayes Anwalt wie vor den
Kopf geschlagen: Bis dato hatte er keine Ahnung von der Attacke, weil er seine
Freizeit mit einem online-Rollenspiel verbringt, das ihn wirkungsvoll vom richtigen
Leben abschneidet. Was noch schwerer wiegt: Vor 21 Jahren, als er selbst 11
Jahre alt war, hatte seine Mutter ihn und seinen Vater verlassen; ohne ein Wort
und ohne sich jemals wieder bei ihnen zu melden. Samuel hatte bis zu diesem
Anruf keine Ahnung gehabt, ob seine Mutter überhaupt noch am Leben war und wo
sie sich die ganzen Jahre aufgehalten hatte. Und für diese Frau, die er nicht
mehr kannte, sollte er sich jetzt einsetzen und behaupten, sie sei ein guter Mensch?
Er sollte lügen?
Samuels erster Reflex ist es dann auch, sich zu weigern.
Doch wie so oft im Leben, hängen Entscheidungen von mehreren Faktoren ab.
In Samuels Fall ist es Guy Periwinkle, ein smarter Typ, der sein Geld mit allem
verdient, wo es etwas zu holen gibt. Periwinkle erinnert Samuel sehr
nachdrücklich daran, dass dieser ihm schon seit vielen Jahren einen fertigen
Roman schuldet, für den er ihm einen satten Vorschuss gezahlt hatte und droht
ihm nun damit, ihn zu verklagen. Doch hier ergibt sich für Samuel ein Ausweg,
seinem finanziellen Ruin zu entrinnen und endlich seinen Traum, ein
erfolgreicher Beststeller-Autor zu werden, zu verwirklichen: Er verspricht
Periwinkle, nicht diesen lange geplanten Roman, sondern ein Buch über seine
Mutter zu schreiben, eine Art verspätete Abrechnung. Dem Geschäftsmann gefällt
die Idee: Der enttäuschte Sohn enthüllt der Öffentlichkeit, was „The
Packer-Attacker“ wirklich für ein Mensch ist.
Eine Reise durch die amerikanische und die eigene Familiengeschichte
Der eher unfreiwillige Kontakt zu seiner Mutter löst in
Samuel nicht das aus, was er erwartet hatte: Bei ihrer ersten Begegnung mit
Faye ist ihm die Frau, die seine Mutter ist, so fremd, wie es fast jede andere
Frau wäre. Entgegen seiner Hoffnungen gibt sie allerdings nichts über sich
preis: keine Erklärung über ihr Verschwinden und nichts über ihr Leben seit
damals. Aber der Druck, Informationen
über sie und ihr Leben zu sammeln, zwingt Samuel, sich auf sie einzulassen. Er
beginnt mit der Unterstützung eines anderen Gamers Informationen zu sammeln.
Sein Vater ist ihm keine große Hilfe, sein Großvater, Fayes Vater, lebt dement
in einem Altenheim. Aber Samuel weiß, dass der alte Mann einst aus Norwegen in
die USA eingewandert war. Außerdem gibt ein altes Foto, auf dem Faye als junge
Frau inmitten von Studenten zu sehen ist, wertvolle Hinweise. Samuel erfährt,
dass seine Mutter 1968 ein Studium in Chicago begonnen hatte – als Mädchen vom
Lande und ohne die Zustimmung ihrer Eltern ist sie in die Unruhen, die sich
damals an der Ermordung von Martin Luther King entzündet hatten und sich dann
gegen den Vietnamkrieg und die Nominierung Nixons zum demokratischen
Präsidentschaftskandidaten richteten, wie zufällig hineingestoßen worden. Im
Laufe der Handlung wird klar, warum sie wegen eines eigentlich nichtigen
Vergehens so unnachgiebig verfolgt wird.
Nathan Hill macht sowohl für Faye als auch für Samuel
deutlich, dass ihr Lebensweg an den ausschlaggebenden Gabelungen von
Fehlentscheidungen geprägt war. Doch die beiden gingen unterschiedlich damit um:
Faye hat es vorgezogen, Menschen zu verlassen oder aus Situationen auszusteigen
wie aus einem Bus. Das gilt nicht nur für ihren Sohn und ihren Mann, sondern auch
für ihr Studium oder das Zusammenleben mit einem anderen Mann, für den sie die
eigene Familie aufgegeben hatte. Samuel hingegen richtet das, was er für seine eigenen
Entscheidungen hält, an den Wünschen anderer aus oder schlägt einen Weg deshalb ein, weil
es angeblich keine anderen Alternativen gibt. Mit seinen Nachforschungen nach
dem Leben seiner Mutter fügt er dem bislang unvollständigen Bild von seiner
Familie und ihrer Geschichte die fehlenden Mosaiksteine hinzu.
Der Roman bewegt sich nicht nur mühelos zwischen dem
Zeitpunkt, zu dem der Großvater Norwegen verlassen hatte, den unruhigen 1960-er
Jahren und der Gegenwart hin und her, sondern greift gesellschaftliche und
politische Themen auf, die zum Teil bis heute aktuell sind. Dabei reicht die
Spannweite von Pädophilie über Hochbegabung bis zur Occupy-Wall-Street-Bewegung
und der Beeinflussung der Wähler durch die Massenmedien. Am Ende des Romans
ergibt sich ein vielschichtiges Familienbild vor dem jeweiligen historischen
Hintergrund und die Erkenntnis, dass Samuels Leben im Wesentlichen eine Folge
von Manipulationen war – was allerdings ebenso auf den zum Terrorakt hochgestuften Angriff
seiner Mutter auf Packer zutrifft.
Lesen?
Unbedingt! Nathan Hill hat in Geister eine verkorkste
Mutter-Sohn-Beziehung aufgearbeitet, mehrere unglückliche Liebesgeschichten
einschließlich der damit – wie gewohnt – jeweils falschen Entscheidungen von Samuel
bzw. seiner Mutter beschrieben und sich der politischen und gesellschaftlichen
Entwicklung der USA gewidmet. Der Roman ist dabei so locker geschrieben, dass
er sich trotz seiner rd. 860 Seiten gut dazu eignet, an einem Stück gelesen zu
werden.
Geister wurde mir als Rezensionsexemplar vom Inhaber der
Hemminger Buchhandlung, Herrn Stefan Koß, zur Verfügung gestellt, wofür ich
mich ganz herzlich bedanke. Herr Koß bietet ein breites Spektrum
unterschiedlichster Bücher an und besorgt nicht im Laden vorhandene Exemplare
innerhalb eines Werktages.
Die Kontaktdaten und Öffnungszeiten gibt es hier: HemmingerBuchhandlung
Das Buch ist bei Piper erschienen und kostet als gebundene
Ausgabe 25,-- Euro sowie als epub- oder Kindle-Edition 19,99 Euro.
Liebe Ina, der Hype um dieses Buch hat mich ein wenig misstrauisch gemacht. Aber deine Rezension überzeugt mich, bis jetzt konnte ich mich ja immer auf dein Urteil verlassen ;-) Liebe Grüße, Renie
AntwortenLöschenLiebe Claudia, das kannst du. Ich bin mir sicher, dass dir das Buch gefallen wird. Erzähl mir bitte mal, wie es dir gefallen hat. Liebe Grüße, Ina
LöschenLiebe Claudia, das kannst du. Ich bin mir sicher, dass dir das Buch gefallen wird. Erzähl mir bitte mal, wie es dir gefallen hat. Liebe Grüße, Ina
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