Sonntag, 2. April 2017

# 93 - Geister der Vergangenheit


Ein Lehrstück über die Kunst der Manipulation

 
Der vom Leben frustrierte College-Professor Samuel Anderson erhält 2011 einen Anruf einer Anwaltskanzlei. Seine Mutter ist in Schwierigkeiten und benötigt dringend seine Hilfe, um nicht für viele Jahre ins Gefängnis gehen zu müssen. Faye hat den ehemaligen Gouverneur Sheldon Packer attackiert, der für die Republikaner als US-Präsident kandidieren will. Der zuständige Richter hat für diesen Fall seinen Ruhestand verschoben und will Faye so hart wie möglich bestrafen. Samuel soll nun einen Brief schreiben, in dem er beteuert, welch ein großartiger Mensch seine Mutter sei. Nur so könne das Urteil gegen Faye eventuell milder ausfallen. Was für die meisten Söhne und Töchter kein Problem ist, empfindet Samuel allerdings als Zumutung. So beginnt das Romandebut Geister des US-Autors Nathan Hill, das im weiteren Verlauf etliche Überraschungen bereithält.

Eine Handvoll Kieselsteine für ein Attentat?


Die 61-jährige Faye hat bei einem öffentlichen Auftritt des Ex-Gouverneurs Packer in einem Chicagoer Park diesen unvermittelt mit Kieselsteinen beworfen. Das bringt der bislang unbekannten Seniorin eine Weile die Schlagzeilen in den Nachrichten, die Endlosschleife eines Videos auf allen Nachrichtenkanälen, auf dem der Vorfall zu sehen ist, sowie eine Strafanzeige ein, die eine ganze Latte von Vergehen beinhaltet, die sie damit begangen haben soll. Das Fernsehen nennt sie nicht mit ihrem Namen, sondern kreiert den griffigen Titel „The Packer-Attacker“. Die augenscheinlich nicht geplante Aktion sorgt auch dafür, dass nicht nur über sie, sondern auch über den Kandidaten Packer in allen Medien rauf und runter berichtet wird. Faye wird zur „Alt-68erin“ stilisiert und in die Nähe von Al-Qaida gerückt.
Samuel ist nach dem Telefonat mit Fayes Anwalt wie vor den Kopf geschlagen: Bis dato hatte er keine Ahnung von der Attacke, weil er seine Freizeit mit einem online-Rollenspiel verbringt, das ihn wirkungsvoll vom richtigen Leben abschneidet. Was noch schwerer wiegt: Vor 21 Jahren, als er selbst 11 Jahre alt war, hatte seine Mutter ihn und seinen Vater verlassen; ohne ein Wort und ohne sich jemals wieder bei ihnen zu melden. Samuel hatte bis zu diesem Anruf keine Ahnung gehabt, ob seine Mutter überhaupt noch am Leben war und wo sie sich die ganzen Jahre aufgehalten hatte. Und für diese Frau, die er nicht mehr kannte, sollte er sich jetzt einsetzen und behaupten, sie sei ein guter Mensch? Er sollte lügen?
Samuels erster Reflex ist es dann auch, sich zu weigern. Doch wie so oft im Leben, hängen Entscheidungen von mehreren Faktoren ab. In Samuels Fall ist es Guy Periwinkle, ein smarter Typ, der sein Geld mit allem verdient, wo es etwas zu holen gibt. Periwinkle erinnert Samuel sehr nachdrücklich daran, dass dieser ihm schon seit vielen Jahren einen fertigen Roman schuldet, für den er ihm einen satten Vorschuss gezahlt hatte und droht ihm nun damit, ihn zu verklagen. Doch hier ergibt sich für Samuel ein Ausweg, seinem finanziellen Ruin zu entrinnen und endlich seinen Traum, ein erfolgreicher Beststeller-Autor zu werden, zu verwirklichen: Er verspricht Periwinkle, nicht diesen lange geplanten Roman, sondern ein Buch über seine Mutter zu schreiben, eine Art verspätete Abrechnung. Dem Geschäftsmann gefällt die Idee: Der enttäuschte Sohn enthüllt der Öffentlichkeit, was „The Packer-Attacker“ wirklich für ein Mensch ist.

Eine Reise durch die amerikanische und die eigene Familiengeschichte


Der eher unfreiwillige Kontakt zu seiner Mutter löst in Samuel nicht das aus, was er erwartet hatte: Bei ihrer ersten Begegnung mit Faye ist ihm die Frau, die seine Mutter ist, so fremd, wie es fast jede andere Frau wäre. Entgegen seiner Hoffnungen gibt sie allerdings nichts über sich preis: keine Erklärung über ihr Verschwinden und nichts über ihr Leben seit damals.  Aber der Druck, Informationen über sie und ihr Leben zu sammeln, zwingt Samuel, sich auf sie einzulassen. Er beginnt mit der Unterstützung eines anderen Gamers Informationen zu sammeln. Sein Vater ist ihm keine große Hilfe, sein Großvater, Fayes Vater, lebt dement in einem Altenheim. Aber Samuel weiß, dass der alte Mann einst aus Norwegen in die USA eingewandert war. Außerdem gibt ein altes Foto, auf dem Faye als junge Frau inmitten von Studenten zu sehen ist, wertvolle Hinweise. Samuel erfährt, dass seine Mutter 1968 ein Studium in Chicago begonnen hatte – als Mädchen vom Lande und ohne die Zustimmung ihrer Eltern ist sie in die Unruhen, die sich damals an der Ermordung von Martin Luther King entzündet hatten und sich dann gegen den Vietnamkrieg und die Nominierung Nixons zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten richteten, wie zufällig hineingestoßen worden. Im Laufe der Handlung wird klar, warum sie wegen eines eigentlich nichtigen Vergehens so unnachgiebig verfolgt wird.
Nathan Hill macht sowohl für Faye als auch für Samuel deutlich, dass ihr Lebensweg an den ausschlaggebenden Gabelungen von Fehlentscheidungen geprägt war. Doch die beiden gingen unterschiedlich damit um: Faye hat es vorgezogen, Menschen zu verlassen oder aus Situationen auszusteigen wie aus einem Bus. Das gilt nicht nur für ihren Sohn und ihren Mann, sondern auch für ihr Studium oder das Zusammenleben mit einem anderen Mann, für den sie die eigene Familie aufgegeben hatte. Samuel hingegen richtet das, was er für seine eigenen Entscheidungen hält, an den Wünschen anderer aus oder schlägt einen Weg deshalb ein, weil es angeblich keine anderen Alternativen gibt. Mit seinen Nachforschungen nach dem Leben seiner Mutter fügt er dem bislang unvollständigen Bild von seiner Familie und ihrer Geschichte die fehlenden Mosaiksteine hinzu.
Der Roman bewegt sich nicht nur mühelos zwischen dem Zeitpunkt, zu dem der Großvater Norwegen verlassen hatte, den unruhigen 1960-er Jahren und der Gegenwart hin und her, sondern greift gesellschaftliche und politische Themen auf, die zum Teil bis heute aktuell sind. Dabei reicht die Spannweite von Pädophilie über Hochbegabung bis zur Occupy-Wall-Street-Bewegung und der Beeinflussung der Wähler durch die Massenmedien. Am Ende des Romans ergibt sich ein vielschichtiges Familienbild vor dem jeweiligen historischen Hintergrund und die Erkenntnis, dass Samuels Leben im Wesentlichen eine Folge von Manipulationen war – was allerdings ebenso auf den zum Terrorakt hochgestuften Angriff seiner Mutter auf Packer zutrifft.

Lesen?


Unbedingt! Nathan Hill hat in Geister eine verkorkste Mutter-Sohn-Beziehung aufgearbeitet, mehrere unglückliche Liebesgeschichten einschließlich der damit – wie gewohnt – jeweils falschen Entscheidungen von Samuel bzw. seiner Mutter beschrieben und sich der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der USA gewidmet. Der Roman ist dabei so locker geschrieben, dass er sich trotz seiner rd. 860 Seiten gut dazu eignet, an einem Stück gelesen zu werden.

Geister wurde mir als Rezensionsexemplar vom Inhaber der Hemminger Buchhandlung, Herrn Stefan Koß, zur Verfügung gestellt, wofür ich mich ganz herzlich bedanke. Herr Koß bietet ein breites Spektrum unterschiedlichster Bücher an und besorgt nicht im Laden vorhandene Exemplare innerhalb eines Werktages.
Die Kontaktdaten und Öffnungszeiten gibt es hier: HemmingerBuchhandlung

Das Buch ist bei Piper erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 25,-- Euro sowie als epub- oder Kindle-Edition 19,99 Euro.

3 Kommentare:

  1. Liebe Ina, der Hype um dieses Buch hat mich ein wenig misstrauisch gemacht. Aber deine Rezension überzeugt mich, bis jetzt konnte ich mich ja immer auf dein Urteil verlassen ;-) Liebe Grüße, Renie

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    1. Liebe Claudia, das kannst du. Ich bin mir sicher, dass dir das Buch gefallen wird. Erzähl mir bitte mal, wie es dir gefallen hat. Liebe Grüße, Ina

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    2. Liebe Claudia, das kannst du. Ich bin mir sicher, dass dir das Buch gefallen wird. Erzähl mir bitte mal, wie es dir gefallen hat. Liebe Grüße, Ina

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