Sonntag, 9. April 2023

# 388 - Die Geschichte um Gretchen geht weiter

 Vor wenigen Wochen habe ich hier den Roman Stay
away from Gretchen
 von Susanne Abel vorgestellt, nun wollte ich wissen, wie die Geschichte weitergeht. Mit ihrem Buch Was ich nie gesagt habe spinnt die Autorin den Faden weiter und leuchtet einen weiteren Part der Geschichte der Kölner Familie Monderath aus.

Greta - oder Gretchen - spielt nach wie vor eine wichtige Rolle, doch nun rückt Tom Monderaths Vater Konrad stärker in den Fokus. Konrad war niedergelassener Gynäkologe und hatte zu seinem Sohn ein schlechtes Verhältnis, als dessen Pubertät begann. Tom hat sich zwar immer wie jemand gefühlt, der in der Familie ein Stück weit am Rand stand, hatte dafür aber keine Erklärung. 

Susanne Abel baut auch die Handlung dieses Romans auf zwei Zeitebenen auf: Sie beginnt mit dem Jahr 1933, in dem der fünfjährige Konrad von einem Tag auf den anderen seinen Vater Wilhelm verliert. Seine Mutter Ida ist mit dem dritten Kind hochschwanger und auf die Zuverlässigkeit von Konrads zwölfjährigem Bruder Franz angewiesen. Zur Familie gehören noch Idas Eltern und Wilhelms in Berlin lebender Bruder Heinrich, ein Gynäkologe, zu dem es aber nur wenig Kontakt gibt.

Wilhelms Tod ist der Beginn einer Kette von Heimsuchungen, die die Familie ereilt. Susanne Abel erzählt vom Aufstieg des Nationalsozialismus', dem Franz begeistert verfällt, der einsetzenden Judenverfolg und den Bücherverbrennungen. Mit Kriegsbeginn wird Franz eingezogen und 1943 getötet. Konrads Schwester Lizzy wird 1933 mit dem Down Syndrom geboren und neun Jahre später zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Da sie von den Nazis als Mensch ohne Wert eingestuft wird, wird sie ein Jahr später getötet - offiziell verstarb sie an einer Lungenentzündung, der standardmäßig verwendeten "Diagnose" nach der Ermordung von behinderten Menschen.

Während Konrads Einsatz als Flakhelfer wird Köln 1943 massiv bombardiert. Seine Mutter und die Großeltern kommen dabei ums Leben. 
Mit 15 Jahren wird Konrad im Schnelldurchlauf zum Soldaten ausgebildet, gerät in amerikanische Kriegsgefangenschaft und muss zusammen mit etlichen anderen Kriegsgefangenen auf einer Baumwollplantage in Mississippi arbeiten. Deutschland wird er erst zwei Jahre später wiedersehen und muss dann mit gerade mal 18 Jahren und ohne Angehörige versuchen, in Köln Fuß zu fassen.

Die zweite Zeitebene setzt 2016 ein. Der bekannte Kölner TV-Nachrichtenmoderator Tom Monderath erfährt von einem älteren Halbbruder, der in den Niederlanden lebt. Die beiden Männer lernen sich kennen und sind über ihre große Ähnlichkeit verblüfft. Die demente Greta hält den "Familienzuwachs" sogar für ihren verstorbenen Mann Konrad. Mithilfe der Fernsehassistentin Jenny spüren die Brüder weitere Halbgeschwister auf. Was hat sich in der Praxis von Konrad zugetragen? War Toms Vater der Samenspender für alle Halbgeschwister?

Lesen?

Susanne Abel baut auch in diesem Roman die Handlung entlang von historischen Fakten auf und schildert beispielsweise, dass die künstliche Befruchtung damals nicht nur dem Zweck diente, ungewollt kinderlosen Paaren zu helfen, sondern sich in ihr das nationalsozialistische Gedankengut fortsetzte: Wertvollere Menschen sollten sich fortpflanzen können, um nicht von sozial schwachen Menschen, die sich angeblich massenhaft vermehrten, zahlenmäßig überrollt zu werden. 

Während beide Zeitstränge langsam aufeinander zu laufen, erleben Greta und Konrad sowie Tom Ereignisse, die bis heute im kollektiven Gedächtnis präsent sind wie z. B. den Kniefall von Willy Brandt vor dem Ehrenmal des jüdischen Ghettos in Warschau, den Bau der Berliner Mauer, den Besuch von John F. Kennedy in Berlin oder den Tod von Prinzessin Diana. So ermöglicht das Buch einen Eindruck, inwieweit der Lauf der Geschichte das Schicksal einer Familie bestimmt hat - wie auch zahllose andere Schicksale.

Wie schon nach dem Lesen von Stay away from Gretchen drängt sich auch bei diesem Roman die Frage auf, wie viel von Susanne Abels eigener Familiengeschichte in Was ich nie gesagt habe eingeflossen ist. Tatsächlich hat Abel erlebt, wie die Demenzerkrankung ihrer Mutter lange verdrängte Erinnerungen nach oben gespült hat, sodass sie eine neue Seite an ihr kennengelernt hat. 

Wer die Bücher gelesen hat, kommt zu dem Schluss: Leute, redet miteinander. Auch über die Vergangenheit, auch über möglicherweise Unbequemes.

Was ich nie gesagt habe ist 2022 bei der dtv Verlagsgesellschaft erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 23 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

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