Sonntag, 16. April 2023

# 389 - Die Wiederentdeckung einer verloren geglaubten Autorin

Der Roman Mistral ist keine Neuerscheinung im
eigentlichen Sinn. Maria Borrély hat ihn bereits 1930 unter dem Titel Sous le vent veröffentlicht, nachdem der spätere Literatur-Nobelpreisträger André Gide ihn dem Verlag Gallimard empfohlen hatte.

Borrély hat die Handlung in einem idyllischen Dorf in der Haute-Provence Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Die Menschen führen ein karges und arbeitsreiches Leben, das sich an der Natur sowie am Lauf der Jahreszeiten ausrichtet und manchmal auch vom Aberglauben geprägt ist. Der Mistral, ein aus Nordwesten kommender starker und kalter Fallwind, beeinflusst das Leben der Menschen deutlich. Er tritt das ganze Jahr über auf, bleibt oft mehrere Tage lang und zerrt an den Nerven der Einheimischen. Man sagt, dass manche von ihm verrückt werden.

Die Natur und das Wetter sind die wesentlichen Einflüsse auf die Handlung, in deren Mittelpunkt die junge Marie steht. Diese Ausrichtung wird auch in der Beschreibung Maries deutlich: "Ihre Augen haben die Farbe des schönen wilden Lavandins. Die Bewegung ihrer Taille, ihrer Schultern, ist wie das Wiegen einer jungen Birke im Wind, dem sie mit der geschmeidigen Kraft ihrer Lenden standhält."

Marie übernimmt als älteste Tochter alle Aufgaben im Haushalt, um ihre Mutter zu entlasten. Auf Schulbildung wurde bei ihr kein Wert gelegt, im Dorf ist sie für ihr heiteres Wesen bekannt. Maries Leben verläuft in gewohnten Bahnen, an Männern hatte sie bisher kein Interesse. Das ändert sich schlagartig, als sie den gutaussehenden Olivier kennenlernt, der im Nachbarort als Knecht in der Ölmühle arbeitet. Sie verliebt sich und meint zu erkennen, dass Olivier ihre Gefühle erwidert. Als Marie von ihm heimlich geküsst wird, steht ihr Herz in Flammen. Doch diese Liebe steht unter keinem guten Stern.

Lesen?

Mistral ist ein Roman voller Poesie und wilder Romantik, ohne dabei kitschig zu sein. Maria Borrély zeichnet sehr genau das Dorfleben nach und flicht immer wieder ihre eigene Lebensanschauung ein, die für die damalige Zeit enorm fortschrittlich war. Maries hundertjährigem Onkel legt sie diese Worte in den Mund: "Man hat die Erde kaputt gemacht, das Klima verändert. Es regnet immer weniger. Die Quellen versiegen. [...] Und jetzt erkennt man Valvachères nicht mehr. Es ist ein Haufen Geröll, den die Flüsse ausgespien haben und die Sonne röstet. [...] Unser Plateau ist allen Winden preisgegeben. Und so wird die Natur hier mehr zerstört als an anderen Orten."

Dieser Onkel wird außerdem - ebenfalls vor fast einhundert Jahren sehr ungewöhnlich - als Vegetarier beschrieben, der die Grausamkeit der schlachtenden Bauern verachtet.

Die Übersetzerin Amelie Thoma erzählt im Nachwort, wie sie Sous le vent wiederentdeckt hat: In ihrem Urlaubsort Puimoisson, dem Schauplatz des Romans, sah sie in einer Vitrine der Dorfkneipe einige Bücher eines regionalen Kleinverlags - darunter auch Maria Borrélys Werk. Thoma erkannte das Potenzial des Romans und machte sich auf die Suche nach einem Verlag, der ihn in einer deutschen Übersetzung herausbringen würde. Ihre Mühe war erfolgreich. Zum Glück.

Mistral ist 2023 im Kanon Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.

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