Montag, 24. April 2023

# 390 - Nahe am Abgrund

Los abismos heißt der ins Deutsche übersetzte Roman
Abgrund der kolumbianischen Schriftstellerin Pilar Quintana im Original: Die Abgründe. Trotz des marginalen Unterschieds trifft der spanischsprachige Titel den Inhalt des Buches besser, denn es geht um mehrere Abgründe: menschliche und geologische.

Die Ich-Erzählerin Claudia ist zu Beginn der 1980-er Jahre acht Jahre alt. Sie lebt mit ihren Eltern in einer Maisonette-Wohnung in Cali. Der Vater Jorge betreibt einen Supermarkt, der ihn zeitlich sehr beansprucht. Die Mutter, die ebenfalls Claudia heißt, ist bis auf eine sehr kurze Episode nicht berufstätig. Ihren Traum, Jura zu studieren, hat ihr despotischer Vater zerstört, und im konservativ geprägten Cali lehnten sich Kinder nicht gegen ihre Eltern auf. Sie verbringt ihre Zeit mit der Pflege der zahllosen Pflanzen in der Wohnung und dem Lesen von Hochglanzillustrierten. Sie bevorzugt Klatschgeschichten über bestimmte Prominente, deren Leben abrupt endeten. Nach Ansicht der Mutter waren all diese Ereignisse immer Selbstmorde. 

Um das Kind Claudia kümmern sich überwiegend Hausangestellte. Das Interesse der Eltern an ihrer Tochter ist begrenzt: Die Mutter findet ihr Kind hässlich, der Vater nimmt die kleine Claudia nur nebenbei wahr. Das Leben der Achtjährigen findet zwischen der elterlichen Wohnung, der Schule, dem Supermarkt und einigen Verwandtenbesuchen statt. In ihrer Freizeit trifft sie sich nicht mit Freunden. 
Das ist an sich schon trostlos genug, aber dann ändert sich etwas Entscheidendes: Die Mutter beginnt eine Affäre mit dem Mann ihrer Schwägerin. Sie ändert ihren Tagesablauf und bringt für die kleine Claudia noch weniger Aufmerksamkeit auf. Als das Verhältnis auffliegt, kommt es zum Streit zwischen den Eltern. Daran, wie sich die Tochter fühlen mag, denken weder die Mutter noch der Vater. Als der Vater mit seiner Tochter in den nahegelegenen Zoo geht, spricht er mit dem Kind kein Wort. Aus Rücksicht ihrem Vater gegenüber schweigt auch Claudia.

Dieses Ereignis ist für das Mädchen eine Zäsur, die es in die Welt der Erwachsenen katapultiert. Der Vater ist noch seltener zu Hause, die Mutter verfällt in eine tiefe Depression. Dem Kind leisten nur die Hausangestellten und seine Puppe Paulina Gesellschaft.

Doch dann ergibt sich die Gelegenheit zu einem kurzen Familienurlaub in einer Finca, die mitten in der kolumbianischen Bergwelt liegt. Zunächst scheint es, als würde der Aufenthalt den dreien guttun, aber dann geht es der Mutter wieder schlechter und sie beginnt schon morgens Whiskey zu trinken. Und was dem Kind zusätzlich Angst macht: Das Haus steht direkt an einem tiefen Abgrund.

Lesen?

Pilar Quintana hat in ihrem Roman viel von dem verarbeitet, was sie in ihrer Kindheit selbst erlebt hat. Ihre Kindheitserinnerungen waren so belastend, dass sie mit ihrer eigenen Familie seit vielen Jahren in Bogotá lebt und ihrem Geburtsort den Rücken gekehrt hat. Mit viel Gefühl zeichnet sie die Situation der Familie nach, und trotz der vielen angeblichen Suizide, die sich durch das Buch ziehen, ist Abgrund kein deprimierender Titel. 

Pilar Quintana gewann für Los abismos 2021 den renommierten Premio Alfaguara de Novela, der spanischsprachige Literatur auszeichnet.

Abgrund ist 2022 in der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.

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