Freitag, 18. Oktober 2024

# 455 - Lügen verboten! Sonst...

Tessa Weidrich und Philipp Bajon sind neunzehn Jahre alt, kennen sich (bislang) nicht und finden unabhängig voneinander eine mysteriöse Silbermünze. Obwohl finden nicht das richtige Wort ist: Tessa stiehlt ihr Exemplar aus dem Portemonnaie ihres verhassten Onkels Henrik, Philipp bekommt seine von einer Kommilitonin, die diese in einer Packung Teelichter entdeckt hat. An dieser Stelle läuft sich Scandor von Ursula Poznanski noch warm, wird aber schon kurz danach spannend.

Auf der einen Münzseite ist ein Barcode, der zu einer Website führt, in die man sich mit dem auf der zweiten Seite abgedruckten Pin einloggen kann. Dort stoßen sie auf einen Wettbewerb, der es in sich hat: Es geht darum, eine Zeit lang nicht zu lügen. Keine Notlügen, keine Halbwahrheiten, keine ausweichenden Antworten auf Fragen von Gesprächspartnern. Keine leichte Aufgabe, wenn man dem ständig meckernden Nachbarn einen guten Morgen wünscht oder das neue Kleid, das die beste Freundin begeistert vorführt, scheußlich findet. Kleine Lügereien sind gesellschaftlich akzeptiert und werden in bestimmten Situationen sogar erwartet, weil man seine Mitmenschen nicht verletzen will. Aber sie sind bei diesem ungewöhnlichen Spiel absolut tabu: Wer von den 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern lügt, scheidet sofort aus.

⮚ [...]Alles deutet darauf hin, dass dieser Tag ein Scheißtag wird. Als sie sich das nächste Mal aufrichtet, steckt gerade der Briefträger - der neue, hübsche - ein paar Umschläge in den Postkasten. Er lächelt ihr zu. "Wie geht es Ihnen heute?"
Sie lächelt zurück [...]. "Danke, gut."
Dass das nicht der Wahrheit entspricht und dass Scandor auch dahingesagte Floskeln abstraft, begreift sie erst, als Kälte ihren Arm durchströmt. Ein Gefühl, als hätte sie Eiswasser in den Adern. 

Die Mühe, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf sich nehmen, wird belohnt: Die Person, die zum Schluss alle anderen mit ihrer absoluten Wahrheit besiegt hat, bekommt fünf Millionen Euro.
Aber während des Auswahlgesprächs wird klar, dass alle, die ausscheiden, sich ihrer größten Angst stellen müssen. Die Furcht, Dinge tun oder aushalten zu müssen, die einem schon beim bloßen Gedanken an sie den Angstschweiß auf die Stirn treiben, ist eine zusätzliche Motivation.

Philipp kommt aus einer wirtschaftlich gut situierten Familie. Er leidet jedoch unter den ständigen Streitereien seiner Eltern, die seine Kindheit und Jugend begleitet haben. Er möchte sich mit dem Preisgeld den Traum vom Auslandsstudium erfüllen. Weit weg von den Eltern.

Auch Tessas Entscheidung, bei dem Wettbewerb mitzumachen, hängt mit ihrer Familie zusammen. Ihr Vater hatte einen Motorradunfall, als Tessa ein kleines Mädchen war. Seitdem ist er stark gehbehindert und hadert mit seinem Schicksal. Die Eltern leben zur Miete in einer Wohnung, die Tessas Onkel Henrik gehört. Hendrik unterstützt die beiden auch finanziell, behandelt sie jedoch wie Bettler und generiert sich als barmherzigen Samariter. Mit dem Gewinn wären die Eltern für immer von Henrik unabhängig. Und sie selbst natürlich auch.

Bereits bei der Eignungsprüfung bekommen Tessa und Philipp einen ersten Eindruck von dem, was da auf sie zukommt: Wie alle Kandidatinnen und Kandidaten sind sie mit einem sehr zuverlässig arbeitenden Lügendetektor verbunden, der schon bei der kleinsten Nachlässigkeit anschlägt. Das ist ein Vorgeschmack auf das, was sie im Wettbewerb erwartet. Wie alle anderen werden Tessa und Philipp mit Scandor ausgestattet, einem neuartigen Gerät, das seinen Träger Tag und Nacht auf Ehrlichkeit und Offenheit scannt. Die flache Vorrichtung wird den Mitspielern auf dem Unterarm fixiert, sie können sie nicht selbst entfernen.

Bald wird deutlich, dass mit dem Gewinnspiel ein bestimmtes Ziel verfolgt werden soll und der Wettbewerb nur den Rahmen bildet. Tessa und Philipp haben jedoch mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie müssen ihren normalen Alltag leben, also zur Uni gehen und in ihren Jobs arbeiten: Tessa in einem Callcenter und als Servicekraft, Philipp als Aushilfe in einem Jeansladen. Und dann sind da noch die Konkurrenten, die mit fiesen Tricks versuchen, die anderen Mitspieler auszuschalten, sowie zusätzliche Aufgaben, die erfüllt werden müssen. Wer ist der oder die Nächste, die durch einen Kältestoß von Scandor erfährt, dass das Spiel für ihn oder sie zu Ende ist?

Tessa und Philipp gewöhnen sich an, keine spontanen Antworten zu geben und die gewohnten Floskeln aus ihrem Sprachschatz zu tilgen. Mit ihrer Taktik machen sie ihrer Konkurrenz schwer zu schaffen. Doch mit dem, was sie gegen Ende erwartet, haben sie nicht gerechnet. Die meisten Leserinnen und Leser vermutlich auch nicht.

Lesen?

Scandor spielt mit der Frage, wie aufrichtig Menschen sind. Wie oft lügen wir pro Tag? Lange Zeit wurde gesagt, dass durchschnittlich 200 Lügen pro Tag normal seien. Doch mittlerweile weiß man, dass es bedeutend weniger sind: Die meisten von uns lügen nur ein bis zwei Mal täglich.

Ursula Poznanski sorgt mit ihrem Jugendroman (ab 14 Jahre) für reichlich Spannung und vermittelt wie nebenbei, dass wir uns unserer Verantwortung für unser Handeln stellen müssen - auch, wenn es schmerzhaft werden kann.

Scandor ist 2024 im Loewe Verlag erschienen und kostet 19,95 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro.

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