Der Ruhm eines Olympiasieges
In Die Frau, die allen davonrannte von Carrie Snyder geht es um eine kanadische Läuferin, Aganetha Smart, die bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam eine Goldmedaillle im 800-Meter-Lauf gewann. Diese Disziplin war damals zum ersten Mal für Frauen zu den Wettkämpfen zugelassen worden.
Die Beine stehen fast nie still
Aganetha Smart wird 1908 als jüngstes Kind des Landwirts Robert Smart geboren und wächst in Kanada weit entfernt von einer größeren Stadt auf. Ihre Mutter Jessica ist dessen zweite Frau; Aganetha hat noch zwei Geschwister sowie acht Halbgeschwister aus der ersten Ehe ihres Vaters, von denen zum Zeitpunkt ihrer Geburt vier bereits gestorben sind.
Aganetha, die von allen Aggie genannt wird, kann nicht still sitzen, seit sie laufen kann. Ihre Beine bewegen sich unwillkürlich auch dann, wenn sie mit ihrer Familie am heimischen Esstisch sitzt, was immer Streit auslöst. Ihre Wege legt sie meistens im Laufschritt zurück und kann sich als Schülerin auch mit den Jungen messen. Doch das Laufen ist damals bei Mädchen und Frauen nicht gern gesehen: Sogar in der einfachen Landbevölkerung ist man der Meinung, dass diese Art der Fortbewegung unschicklich ist.
Doch Aggie kann nicht anders: Wann immer sich eine Gelegenheit zum Laufen bietet, nutzt sie sie.
Eine Chance, die ergriffen werden muss
Aggie nimmt aus Spaß während eines Ferienbesuchs bei ihrer Schwester Olive, die in Toronto Arbeiterin in einer Fleischfabrik ist, an einem Wettlauf teil, der von Olives Arbeitgeber im Rahmen eines Sommerfests veranstaltet wird. Sie ist mit 16 Jahren eine der jüngsten Läuferinnen und gewinnt. In diesem Moment wird ihr klar, dass sie nicht nach Hause zurückkehren will.
Sie schafft es, in das neue Frauenteam eines Süßwarenfabrikanten aufgenommen zu werden und wird von da an professionell trainiert. Und dann passiert, was Aggie selbst am wenigsten vermutet hat: Sie gewinnt bei den Olympischen Spielen 1928 den 800-Meter-Lauf der Frauen und die Goldmedaille für das kanadische Olympiateam. Die Presse reißt sich um sie, sie bekommt Werbeverträge und wird hofiert. Doch der Ruhm, der über sie hereinbricht, überfordert sie.
Die Gesellschaft hat andere Erwartungen an die Frauen. Es wird kolportiert, dass sich die Sportlerinnen bei dieser langen Distanz überanstrengt haben und reihenweise an der Ziellinie zusammengebrochen sein sollen. Der International Association of Athletics Federations (IAAF; deutsch: Weltleichtathletikverband) fürchtet um die Gebärfähigkeit der Sportlerinnen und nimmt deren angebliche Schwäche zum Anlass, diese Disziplin wieder zu streichen. Erst viel später wird anhand von Film- und Fotoaufnahmen bewiesen werden können, dass es sich bei dieser Behauptung um eine Lüge gehandelt hat. Der 800-Meter-Lauf der Frauen wurde erst 1960 wieder ins olympische Programm aufgenommen.
Ein (un-)freiwilliger Ausflug
Aganetha Smart blickt im Alter von 104 Jahren auf ihr Leben zurück. Sie fristet in einem Altenheim ein ödes Dasein und langweilt sich. Die Pfleger behandeln sie wie ein unmündiges Kind, obwohl sie nicht dement ist. Doch eines Tages bekommt sie unerwarteten Besuch: Ein junges Pärchen behauptet gegenüber der Altenpflegerin, mit der Seniorin entfernt verwandt zu sein und sie nur zu einem Spaziergang abholen zu wollen. Aggie durchschaut die Lüge sofort, die Pflegerin nicht. Es stellt sich heraus, dass Kaley und Max nach ihr gesucht haben und einen Film über sie drehen wollen. Sie steuern die Stationen der früheren Heimat der Ex-Läuferin an und Aggie erfährt, dass sie tatsächlich Angehörige von ihr sind - und ihr familiär weitaus näher stehen, als es den beiden bewusst ist. Durch diesen ungeplanten Ausflug wird der alten Dame klar, dass sie etwas, was sie einer ihrer Schwestern als Kind angetan hat, mit einem späteren Opfer wieder gutmachen konnte.
Die Frau, die allen davonrannte ist keineswegs ein typischer Sportlerroman, in dem es nur um das Training und die Wettkämpfe geht. Aganethas sportliche Entwicklung ist in eine komplizierte und sehr problematische Familiengeschichte eingewoben, in der sich alle Gefühle zwischen Liebe und Hass finden. Das Buch erzählt von Träumen, erfüllten und geplatzten Hoffnungen sowie den Konventionen dieser Zeit, gegen die es insbesondere Frauen schwer hatten.
Carry Snyder hat für die Handlung Tatsachen und Fiktion geschickt vermischt und einen Roman geschaffen, der seine Leser bis zum Schluss fesselt.
Die Frau, die allen davonrannte ist am 13. Juni 2016 im btb Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 19,99 € sowie als Kindle- oder epub-Edition 15,99 €.
Liebe Ina,
AntwortenLöschendies ist mal wieder ein Buch, dass ich gerne lesen würde. Das merke ich mir mal vor.
Liebe Grüße
Anne
Liebe Anne,
Löschenich kann das Buch wirklich empfehlen. Das Leben dieser Frau ist der fiktionale Teil, alles Sportliche entspricht den Tatsachen.
Liebe Grüße
Ina