Sonntag, 26. Januar 2020

# 226 - Schreib jetzt!

Schreibratgeber gibt es wie Sand am Meer. Sie beschäftigen sich meistens mit den "richtigen" Techniken oder geben Ratschläge, welche Orte sich möglicherweise fern des eigenen Schreibtischs zum Schreiben eignen. Viele dieser Titel tun genau das Gegenteil dessen, was sie erreichen wollen: Sie zerstören die Lust am Schreiben und zertreten den Willen derjenigen Menschen, die einen letzten Schubs benötigen, wie man eine zarte Flamme zum Erlöschen bringen würde.


Doris Dörries Ansatz ist ein anderer. In Lesen, schreiben, atmen - eine Einladung zum Schreiben stößt sie die Tür zu ihrem eigenen Leben auf. In 50 kurzen Kapiteln lässt sie ihre Leser intensiv an Ereignissen teilhaben, die sie geprägt und zu dem Menschen gemacht haben, der sie ist. Es geht um die Höhen ebenso wie um die Tiefen: Dörrie beschönigt nichts und man hat den Eindruck, dass sie bei der Schilderung der sehr unterschiedlichen Situationen auch nichts auslässt. Sie geht dabei nicht chronologisch vor, sondern greift Erinnerungen auf, die nur einem Zweck zu dienen scheinen: den Leser aufzufordern, sich ebenfalls zu erinnern.

Alles ist es wert, aufgeschrieben zu werden: Schönes und Trauriges, Gewonnenes und Verlorenes, Erinnerungen innerhalb eines Lebensabschnitts, Erinnerungen an bestimmte Menschen, Orte oder Dinge. Indem Dörrie in ihren Kapiteln verschiedene Zeitformen anwendet, demonstriert sie deren Wirkung auf den Text und regt dazu an, das selbst auszuprobieren. 

Lesen, schreiben, atmen - eine Einladung zum Schreiben ist das Buch, wenn es darum geht, Schreibhemmungen wirkungsvoll abzubauen. Es fordert außerdem dazu auf, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und sich nicht vom Schreiben abzuhalten oder abhalten zu lassen. 

Doris Dörrie hat im letzten Absatz ihres Buches noch einmal deutlich darauf hingewiesen, worum es ihr geht:

"Schreiben ist Unterwassertätigkeit, ein Abtauchen in Regionen, die einem unbekannt sind oder die man vergessen hat. Man entfernt sich von der Welt über Wasser und darf nicht in Panik geraten. Man taucht ab in das eigene Leben. In das Leben, das man wirklich hat, nicht das, das man sich vielleicht wünscht. Man ist mit einem Mal dort, wo einem niemand zuschaut. Ganz bei sich. Ruhig weiteratmen! Weiterschreiben. Weitermachen. Jeder Tag ist ein guter Tag."

Lesen, schreiben, atmen - eine Einladung zum Schreiben ist 2019 im Diogenes Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 18 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro.

 

Samstag, 18. Januar 2020

# 225 - Ein Blick in den Maghreb

Während der Frankfurter Buchmesse habe ich mich mit der Mainzer Verlegerin Donata Kinzelbach unterhalten, die mit ihren Büchern eine Nische besetzt, zumindest für deutsche Verhältnisse. Seit mehr als 30 gibt sie Literatur aus dem Maghreb heraus. Ihr Schwerpunkt liegt auf Titeln aus Marokko, Algerien und Tunesien.

Der Maghreb: Das sind etwa 100 Millionen Menschen, die in den Mitgliedsstaaten der Arab Maghreb Union (AMU) leben - also Algerien, Libyen, Mauretanien, Marokko und Tunesien - sowie Gebieten in der West-Sahara und die Städte Ceuta und Melilla. Einige der Maghrebstaaten sind vielen Deutschen als Urlaubsziele bekannt, viel Aufmerksamkeit bekamen die Länder im Zuge des Arabischen Frühlings.

Ich stelle hier zum Einstieg zwei Bücher aus dem Kinzelbach Verlag vor, die einen ersten Eindruck von der Bandbreite bieten, die die Maghreb-Literatur zu bieten hat. Beide stammen von der algerischstämmigen Autorin Fatima Belhadj, sind jedoch sehr unterschiedlich.

In Leben in der Banlieue geht es vordergründig um zwölf Menschen, die es aus maghrebinischen Staaten in die Banlieu verschlagen hat. Aber hinter jedem Schicksal steht auch die Vorstadt mit ihrer Kriminalität, den Drogen und den verschiedenen Nationalitäten, die hier aufeinander treffen. Nicht nur aus dem Maghreb, sondern auch aus afrikanischen Ländern oder Osteuropa. Da ist zwar auch ein Zusammenhalt nach außen, aber eben auch die Abwesenheit von Lebensfreude.

Fatima Belhadj erzählt zum Beispiel von einem zwanzigjährigen Mann, der schon zwei Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht hat, und von der fünfzigjährigen Tunesierin, die mit ihrem Mann bis zu dessen Tod in einer arrangierten Ehe lebte. Manche leben freiwillig in der Banlieu, anderen wurde dort von der Sozialbehörde eine Wohnung zugewiesen. Die beschriebenen Personen sind fiktiv, hinter ihnen stehen jedoch tatsächlich existierende Menschen. Mit ihrer klaren und unmittelbaren Sprache ermöglicht es die Autorin ihren Lesern, direkt in die Atmosphäre und besonderen Umstände, unter denen die beschriebenen Menschen leben, einzutauchen. Leben in der Banlieu stößt eine Tür auf, die in eine uns fremde Welt führt.

Das zweite Buch von Fatima Belhadj, das ich
vorstelle, hat den Titel Das Geheimnis des Mondes. Es handelt von einer auf einer berberischen Erzählung basierenden Geschichte: Die 16-jährige Massilya ist zusammen mit ihrer Mutter von Frankreich in den Osten Algeriens gereist, um dort bei den Chaouis, einem Berbervolk, die Ferien zu verbringen. Die Eltern stammen aus der Gegend, dem Mädchen ist sie fremd.

Es fehlt dort nicht nur an Strom und fließendem Wasser, sondern Massilya ist auch von den Anschauungen der Menschen befremdet: Das ganze Leben geschieht nach dem Willen Gottes und ist für jeden vorherbestimmt. Da die Ereignisse ohnehin Schicksal sind, hat es keinen Sinn, dagegen anzukämpfen.

Was Massilya nicht ahnt: Ihre Eltern haben sie dem wohlhabenden und deutlich älteren Aghilas versprochen. Als sie davon erfährt, wird ihr schlagartig klar, dass ihr Körper nicht ihr, sondern ihren Eltern gehört und nach der Hochzeit in das Eigentum von Aghilas übergehen würde.
Doch dann lernt sie auf dem Markt den jungen Wighlan kennen und beide verlieben sich sofort ineinander. Als Massilya schwanger wird, nimmt die Handlung einen dramatischen Verlauf und mündet in ein ungewöhnliches Ende.
Mit ihrem Buch tritt Fatima Belhadj deutlich für das Recht ein, dass sich Frauen ihren Ehepartner selbst auswählen und eigenständig über ihr Leben entscheiden können.

Sowohl Leben in der Banlieu als auch Das Geheimnis des Mondes sind als Taschenbuch für je 18 Euro erhältlich.

In Kürze wird es eine weitere Vorstellung eines Titels aus dem Kinzelbach Verlag geben. Das dann vorgestellte Buch wird einen sehr aktuellen Bezug haben.

Freitag, 10. Januar 2020

# 224 - Das Mittelalter ruft: Die Waringhams sind zurück

Leser von Rebecca Gablé, die die bislang fünf Bände
der Waringham-Saga kennen, dürfen sich den sechsten Band Teufelskrone nicht entgehen lassen. Wer die Saga noch nicht kennt, kann problemlos mit diesem Buch einsteigen: Der neueste Titel aus der Reihe spielt nicht etwa nach dem fünften Teil Der Palast der Meere, sondern ist zeitlich vor dem ersten angesiedelt: Gablé lässt die Handlung Ende Dezember 1192 mit der Festsetzung von König Richard "Löwenherz" von England durch den österreichischen Herzog Leopold V. beginnen.

Die Familie in zwei Lagern

 

Die fiktive Familie Waringham wird dieses Mal vom Vater Earl Jocelyn of Waringham und seinen Söhnen Guillaume und Yvain dominiert. Jocelyn behält nicht nur die Geschicke seiner Baronie im Blick, sondern beobachtet auch aufmerksam die politische Entwicklung in England. König Richard kann sich seiner Position nicht sicher sein, denn sein Bruder Prinz John "Ohneland" beansprucht die Krone ebenfalls für sich. Guillaume ist bereits ein Ritter des Königs, und als Yvain alt genug ist, schickt ihn sein Vater als Knappe an den Hof des Prinzen. Es ist schließlich immer gut, zwei Eisen im Feuer zu haben.

Dieser Schachzug ist zwar taktisch gut überlegt, treibt aber in den darauffolgenden Jahrzehnten einen Keil zwischen die Brüder. Beide stehen loyal hinter ihren Dienstherren und verteidigen diese gegen Angriffe aller Art - auch untereinander. Die Situation verkompliziert sich, als sich Guillaume und Yvain in dieselbe Frau verlieben und der Ältere sie heiratet.

Rebecca Gablé verwebt das Schicksal der Familie Waringham - wieder einmal - gekonnt mit der englischen Geschichte, bis hin zur Mitwisserschaft an einem Mord, der Yvain of Waringham mit König John verbindet. Der Roman zeugt von den profunden historischen Kenntnissen der Autorin und ist gewohnt flüssig und spannend geschrieben. Die mehr als 900 Seiten sind schnell gelesen. Er endet im Jahr 1216 nach einer schicksalhaften Krise, die die Familie in mehrfacher Hinsicht heimgesucht hat.

Wenn es an diesem Buch überhaupt etwas zu kritisieren gibt, dann den Umstand, dass es so etwas wie der Teil 0 der gesamten Saga ist. Dadurch büßt eine der eigentlich spannendsten Begebenheiten etwas von ihrer Dramatik ein.

Lesen?


Auf jeden Fall. Teufelskrone hat keiner Stelle Längen; da die Zahl der Akteure geringer ist als bei den anderen Teilen der Saga, lässt sich der Verlauf etwas einfacher nachvollziehen. Ein Verzeichnis der wichtigsten Personen sowie ein Stammbaum des Hauses Plantagenet helfen dabei, den Überblick zu behalten.

Teufelskrone ist bei Lübbe erschienen und kostet als gebundenes Buch 28 Euro, als E-Book 19,99 Euro sowie als Audio-CD 24,98 Euro.